Die Mär vom empathielosen Autisten
Verfasst: 31. Dezember 2020, 09:02
Die Mär vom emphatielosen Autisten
Hervorgehend aus einer Konferenz mit und über Autisten zum Thema autistisches Mitgefühl und Gefühlswelt
von Konrad Lehmann
Das Eine, was jeder über Autisten zu wissen glaubt, ist: Sie haben keine Empathie. Laut einer Umfrage ist rund die Hälfte der "neurotypischen" Befragten dieser Ansicht. Interessanterweise sind etwa drei Viertel der befragten Autisten ganz anderer Ansicht und halten sich selbst für sehr empathisch.
Eine Konferenz im polnischen Toruń vermittelte neue Einblicke in die Gefühlswelt von Autisten
Die Mitveranstalterin Joanna Ławicka hatte ein rundes Dutzend Autisten auf die Bühne gebeten und ihnen die einfache Frage gestellt: "Hast Du Empathie?" Als gefühlskalten Roboter empfand sich keiner der Diskutanden (was wohl logisch in der Natur des Empfindens liegt). Mehrere gaben eigene Erlebnisse zu hören und reflektierten über die Unterschiede zwischen neurotypischen und neurodiversen Menschen. So erzählte Marek, wie er Zeuge eines Unfalls war, bei dem sich jemand eine tiefe Schnittwunde in der Wade zuzog. Sieben, acht "normale" Menschen standen daneben, rangen die Hände und litten untätig mit dem Verletzten. Marek verband notdürftig die Wunde und sorgte dafür, dass einer der Umstehenden den Notarzt rief.
So stellte Michał Tadeusz Handzel, ein großer, kräftiger, vollbärtiger Mönch in weißer Kutte, einige der Philosophen vor, von denen man mit gutem Grunde annehmen kann, dass sie Autisten waren: Baruch Spinoza, Jeremy Bentham, Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein. Dürfte man noch Arthur Schopenhauer dazunehmen, wäre das Pantheon weitgehend komplett. Sollten die größten Philosophen des Abendlands tatsächlich Asperger-Autisten gewesen sein, dann hätte das vielleicht doch etwas mit Empathie zu tun. Aber dazu weiter unten.
Theoretiker der Embodied Social Cognition haben die gewagte Idee geäußert, dass die vielgerühmte "Theory of Mind", also die Fähigkeit, über innere Zustände anderer Menschen nachzudenken, im Alltagsleben kaum eine Rolle spielt. Wenn wir stets intuitiv, per Spiegelung und somatische Marker, wissen, wie es dem Gegenüber geht, und ebenso implizit wissen, wie wir darauf richtig reagieren: Dann brauchen wir darüber nicht nachzudenken. Neurotypische Menschen schaffen das alles mit Links ganz ohne Denken. Man könnte provokant sagen: ohne Empathie.
Aber wenn dieser Automatismus nicht funktioniert, weil er an irgendeiner Stelle unterbrochen ist, dann muss man das explizite System bemühen und Theory of Mind betreiben: Was will der Andere vermutlich? Wie würde er reagieren, wenn ich so oder so antworte? Was ist angemessen?
Ein Autist fühlt die Mimik, die Situation des Anderen vermutlich genauso wie ein Neurotypischer. Aber aus unklaren Gründen, aus irgendeiner Verirrung der Hirnentwicklung, sattelt darauf kein prozeduraler Automatismus. Die Masse der Sinneseindrücke, insbesondere der Tsunami an sozialen Signale fallen für ihn nicht in einfache, erlernte Muster. Sie überfordern ihn, weil sie bewusst verarbeitet sein wollen. Darum denkt ein Autist vermutlich erheblich mehr über das Innenleben seines Gegenübers nach als umgekehrt. Er hat vermutlich eine bei Weitem bessere Menschenkenntnis. Ist das dasselbe wie: mehr Empathie? Oder was meinen wir mit diesem Wort überhaupt?
Und ist dies der Grund, warum die größten Philosophen Autisten waren? Weil ihnen das scheinbar Selbstverständliche rätselhaft war? Weil sie von Jugend an gezwungen waren, Automatismen durch Denken zu ersetzen? Weil sie die Welt nicht unwillkürlich auf sich bezogen, nicht als Raum ihrer Handlungsmöglichkeiten wahrnahmen, sondern an sich, als etwas, das man Verstehen möchte?
Danach bat Joanna Ławicka um Fragen. Es gab keine, aber ein autistischer Teilnehmer, eine hagere, eigenwillig gekleidete Gestalt, ergriff das Mikrophon. Auf der Treppe zur Bühne langsam hin und her schreitend, abgehackt und sichtlich nach Worten ringend, haderte er mit dem Schicksal: "Warum war mein eigenes Leiden nicht genug? Warum müssen immer noch so viele leiden? Warum hört es nicht auf? Wir müssen dafür sorgen, dass das Leiden aufhört!" Er weinte dabei, offenkundig überwältigt von der Erinnerung an sein eigenes Leid, mehr aber noch vom Gedanken an das Leiden anderer.
Der Teilnehmer Stiof, der in seinem eigenen Vortrag gerade noch hingewiesen hatte auf die Narben auf seiner Stirn, die er davon hat, dass er als Jugendlicher den Kopf gegen die Wand schlug, wenn die Reizüberflutung zu viel wurde, ging stracks durch den Saal zu dem jungen Mann in Schwarz und nahm ihn in den Arm.
So viel zur Empathielosigkeit der Autisten.
(Konrad Lehmann)
Der komplette Artikel:
https://www.heise.de/tp/features/Die-Maer-vom-empathielosen-Autisten-4501615.html
Hervorgehend aus einer Konferenz mit und über Autisten zum Thema autistisches Mitgefühl und Gefühlswelt
von Konrad Lehmann
Das Eine, was jeder über Autisten zu wissen glaubt, ist: Sie haben keine Empathie. Laut einer Umfrage ist rund die Hälfte der "neurotypischen" Befragten dieser Ansicht. Interessanterweise sind etwa drei Viertel der befragten Autisten ganz anderer Ansicht und halten sich selbst für sehr empathisch.
Eine Konferenz im polnischen Toruń vermittelte neue Einblicke in die Gefühlswelt von Autisten
Die Mitveranstalterin Joanna Ławicka hatte ein rundes Dutzend Autisten auf die Bühne gebeten und ihnen die einfache Frage gestellt: "Hast Du Empathie?" Als gefühlskalten Roboter empfand sich keiner der Diskutanden (was wohl logisch in der Natur des Empfindens liegt). Mehrere gaben eigene Erlebnisse zu hören und reflektierten über die Unterschiede zwischen neurotypischen und neurodiversen Menschen. So erzählte Marek, wie er Zeuge eines Unfalls war, bei dem sich jemand eine tiefe Schnittwunde in der Wade zuzog. Sieben, acht "normale" Menschen standen daneben, rangen die Hände und litten untätig mit dem Verletzten. Marek verband notdürftig die Wunde und sorgte dafür, dass einer der Umstehenden den Notarzt rief.
So stellte Michał Tadeusz Handzel, ein großer, kräftiger, vollbärtiger Mönch in weißer Kutte, einige der Philosophen vor, von denen man mit gutem Grunde annehmen kann, dass sie Autisten waren: Baruch Spinoza, Jeremy Bentham, Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein. Dürfte man noch Arthur Schopenhauer dazunehmen, wäre das Pantheon weitgehend komplett. Sollten die größten Philosophen des Abendlands tatsächlich Asperger-Autisten gewesen sein, dann hätte das vielleicht doch etwas mit Empathie zu tun. Aber dazu weiter unten.
Theoretiker der Embodied Social Cognition haben die gewagte Idee geäußert, dass die vielgerühmte "Theory of Mind", also die Fähigkeit, über innere Zustände anderer Menschen nachzudenken, im Alltagsleben kaum eine Rolle spielt. Wenn wir stets intuitiv, per Spiegelung und somatische Marker, wissen, wie es dem Gegenüber geht, und ebenso implizit wissen, wie wir darauf richtig reagieren: Dann brauchen wir darüber nicht nachzudenken. Neurotypische Menschen schaffen das alles mit Links ganz ohne Denken. Man könnte provokant sagen: ohne Empathie.
Aber wenn dieser Automatismus nicht funktioniert, weil er an irgendeiner Stelle unterbrochen ist, dann muss man das explizite System bemühen und Theory of Mind betreiben: Was will der Andere vermutlich? Wie würde er reagieren, wenn ich so oder so antworte? Was ist angemessen?
Ein Autist fühlt die Mimik, die Situation des Anderen vermutlich genauso wie ein Neurotypischer. Aber aus unklaren Gründen, aus irgendeiner Verirrung der Hirnentwicklung, sattelt darauf kein prozeduraler Automatismus. Die Masse der Sinneseindrücke, insbesondere der Tsunami an sozialen Signale fallen für ihn nicht in einfache, erlernte Muster. Sie überfordern ihn, weil sie bewusst verarbeitet sein wollen. Darum denkt ein Autist vermutlich erheblich mehr über das Innenleben seines Gegenübers nach als umgekehrt. Er hat vermutlich eine bei Weitem bessere Menschenkenntnis. Ist das dasselbe wie: mehr Empathie? Oder was meinen wir mit diesem Wort überhaupt?
Und ist dies der Grund, warum die größten Philosophen Autisten waren? Weil ihnen das scheinbar Selbstverständliche rätselhaft war? Weil sie von Jugend an gezwungen waren, Automatismen durch Denken zu ersetzen? Weil sie die Welt nicht unwillkürlich auf sich bezogen, nicht als Raum ihrer Handlungsmöglichkeiten wahrnahmen, sondern an sich, als etwas, das man Verstehen möchte?
Danach bat Joanna Ławicka um Fragen. Es gab keine, aber ein autistischer Teilnehmer, eine hagere, eigenwillig gekleidete Gestalt, ergriff das Mikrophon. Auf der Treppe zur Bühne langsam hin und her schreitend, abgehackt und sichtlich nach Worten ringend, haderte er mit dem Schicksal: "Warum war mein eigenes Leiden nicht genug? Warum müssen immer noch so viele leiden? Warum hört es nicht auf? Wir müssen dafür sorgen, dass das Leiden aufhört!" Er weinte dabei, offenkundig überwältigt von der Erinnerung an sein eigenes Leid, mehr aber noch vom Gedanken an das Leiden anderer.
Der Teilnehmer Stiof, der in seinem eigenen Vortrag gerade noch hingewiesen hatte auf die Narben auf seiner Stirn, die er davon hat, dass er als Jugendlicher den Kopf gegen die Wand schlug, wenn die Reizüberflutung zu viel wurde, ging stracks durch den Saal zu dem jungen Mann in Schwarz und nahm ihn in den Arm.
So viel zur Empathielosigkeit der Autisten.
(Konrad Lehmann)
Der komplette Artikel:
https://www.heise.de/tp/features/Die-Maer-vom-empathielosen-Autisten-4501615.html