Höchste Menschlichkeit?

Ein Leben in (völliger) Isolation? Du bist sehr introvertiert, ängstlich-vermeidend oder gar schizoid? Wie gehst du damit um?
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Nessuno
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Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon Nessuno » 8. Dezember 2019, 14:48

Fritz Riemann schreibt in "Grundformen der Angst" über Schizoide:

»Soviel ist jedenfalls sicher: wenn diese Menschen es vermögen, ihr Leid und ihre Ängste durchzustehen und zu überwinden, können sie höchste Menschlichkeit erreichen.«

Stimmt das? - Was meint er damit? - Und was ist "Menschlichkeit"?

Dahinter steckt offenbar die Vorstellung, daß unter der besonders harten Schale ein besonders weicher Kern verborgen sein kann. Ich glaube schon, daß bestimmte Typen von Schizoiden - wohl keine ganz extremen - in ungewöhnlich günstigen Konstellationen bestimmte Grundeinstellungen einnehmen und sich zu Handlungen aufschwingen, die von den anderen als überaus "menschlich" empfunden werden, aber konkret kann ich es mir schlecht vorstellen.

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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon Kalliope » 8. Dezember 2019, 16:34

Nessuno hat geschrieben:Und was ist "Menschlichkeit"?


Eine wirklich interessante Frage.
Was Riemann betrifft, wäre die Frage, in welchem Kontext er das sagt. (Bin gerade zu faul, da in meinem Riemann zu suchen.)
Dann wäre evt. möglich, zu erahnen, wie er das gemeint hat.

Jenseits des Kontexts finde ich die Frage aber noch viel interessanter und vielschichtiger.
"Menschlichkeit" kann ja im positiven Sinne bedeuten, dass man ein besonders empathischer, toleranter Mensch ist, im neutralen oder sogar negativen im Sinne von "allzu menschlich" gedeutet werden. In beiden Fällen könnte man da sich an die "kleinen Fehler und Macken und deren Anerkennung im Menschen und in sich selbst" entlanghangeln.

Bzgl. der schizoiden Menschen kann ich mir auch gut vorstellen, dass es unter denen manche gibt, die durch die Kombi hohe Sensibilität und hohe Reflektiertheit so etwas herauskommen kann/könnte wie "höchste Menschlichkeit" - wenn denn dann die Hürde der Abwehr und der Überforderung überwunden wäre.
Allerdings sehe ich auch, dass nicht wenige Schizoide sich doch reichlich im theoretischen Bereich aufhalten, häufiger auch in den anderen Menschen hineindenken, um nicht zu sagen hineindichten, was dem anderen aber nicht unbedingt gerecht wird (sondern eher ihrer "Brille", durch die sie schauen. Das nicht anders, als bei anderen Menschen mitohne Schizoidie auch. Nur, dass die Menschenkenntnis manchmal ein bisschen zu sehr der "Trockenübung" denn echter Realerfahrung entspringen mag).
Nein, betrifft gewiss nicht "alle", natürlich. Um das sicherheitshalber noch anzufügen.
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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon Kalliope » 8. Dezember 2019, 16:52

Ich möchte das zuletzt Gesagte noch ein bisschen "bebildern"/ erklären.

Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, der Kinder gezeugt und großgezogen hat, so kann ich nur aus meiner Beobachtung, Gesprächen mit Kinder-Erziehenden und meiner "Trockenmeinung" beisteuern. Nicht aus echter Realerfahrung (sieht man mal von Erfahrung im beruflichen Umfeld mit Kindern ab).

Das kann man nun übertragen auf alles Mögliche, worin mensch keine Erfahrung hat. Z.B. Partnerschaft, Sex, Beruf oder oder. Im Grunde alles Bereiche des Lebens sind da möglich. "Seinen Senf dazugeben" tun freilich die meisten Menschen gern, auch, wenn sie keine persönliche Erfahrung haben :).
(Edit: .... und das ist (auch) "höchst menschlich"! ;D )
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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon Nessuno » 8. Dezember 2019, 17:52

Kalliope hat geschrieben:
Nessuno hat geschrieben:Und was ist "Menschlichkeit"?


Eine wirklich interessante Frage.
Was Riemann betrifft, wäre die Frage, in welchem Kontext er das sagt. (Bin gerade zu faul, da in meinem Riemann zu suchen.)
Dann wäre evt. möglich, zu erahnen, wie er das gemeint hat.


Der ganze Absatz lautet so:

»In der Therapie schizoider Menschen kommt man mit Grenzzuständen in Berührung, die die Gefährdetheit menschlicher Existenz aufleuchten lassen. Gerade deshalb können wir von ihnen lernen, was für Menschen existenziell wichtig ist, welche familiären und sozialen Umweltfaktoren andererseits unsere Entwicklung in einem Ausmaß gefährden, das, wenn überhaupt, nur sehr schwer ausgeglichen werden kann. Geniale Menschen entwickeln sich manchmal auf solchem Hintergrund, im Annehmen des Gefühls totalen In-Frage-gestellt-Seins, womit wir die oft schmale Grenze zwischen Genialität und Psychose angedeutet haben. So viel ist jedenfalls sicher: wenn dieser Menschen es vermögen, ihr Leid und ihre Ängste durchzustehen und zu überwinden, können sie höchste Menschlichkeit erreichen.« (Ausgabe von 1984, Seite 53)

Und was ist nun "Menschlichkeit", wenn die Psychose nicht gerade in Genialität umschlägt?

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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon Indigocat » 8. Dezember 2019, 18:15

Ja, tatsächlich hätte ihn mal einfach jemand fragen sollen, was er damit meint. Schon für Menschlichkeit gibt es ja verschiedene Definitionen.

Vielleicht meint er damit, absolut gut sein, sich für andere einsetzen. Wobei sich für andere einsetzen auch gut und böse sein kann, warum z.B. setzt man sich für andere ein. Und dann kann man es eigentlich gut meinen, hilft aber einem bösen Menschen, der jemandem anderen wieder Schaden zufügt, so wie diese Richterin hier: https://www.t-online.de/nachrichten/pan ... -euro.html.

Vor einiger Zeit saß immer eine kranke Katze vor unserem Haus. Sie hatte wohl mich als Retterin auserkoren und lief mir immer nach. Mit nach Hause nehmen konnte ich sie nicht, weil sie meine Katzen angesteckt hätte. Füttern konnte ich auch nicht, das hätte andere Tiere angelockt und außerden hätte ich eine Kastrationspflicht gehabt. Ich war zu der Zeit pleite und konnte mir keinen Tierarzt leisten, außerdem hatte ich Angst, dass ich eine Gebühr bezahlen muss, wenn ich sie ins Tierheim bringe. Als ich mich doch dazu durchgerungen hatte, sie wengistens zu füttern und mal nach einem Tierschutzverein zu googlen, war sie verschwunden. Ich hoffe, es hat sich jemand anderes ihrer erbarmt. :bangen: In dem Fall hatte ich einfach keine Kapazitäten mehr für Menschlichkeit. :rätseln:
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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon ToWCypress81 » 9. Dezember 2019, 04:53

Nessuno hat geschrieben:Der ganze Absatz lautet so:
(...)Geniale Menschen entwickeln sich manchmal auf solchem Hintergrund, im Annehmen des Gefühls totalen In-Frage-gestellt-Seins, womit wir die oft schmale Grenze zwischen Genialität und Psychose angedeutet haben. So viel ist jedenfalls sicher: wenn dieser Menschen es vermögen, ihr Leid und ihre Ängste durchzustehen und zu überwinden, können sie höchste Menschlichkeit erreichen.« (Ausgabe von 1984, Seite 53)

Ich bin mir ziemlich sicher, das damit aufgrund des "immer alles in-Frage-stellen" ein höherer Ansatz und Wissensdurst, was Moral und Ethik (=Menschlichkeit) betrifft gemeint ist - entsteht. Dies ein "normaler" Mensch in dem Umfang und "Drang" im "Normalfall" nicht entsprechend entwickelt - da der Auslöser dazu fehlt.

Durch eben dieser starken Suche was falsch und richtig ist (=Ethik und Moral) ein solcher Mensch, OHNE sich dessen bewusst zu sein -wahrscheinlich gar oft oder meist besser einschätzen kann, was in dieser und jenen Situation richtiger oder falsch ist. Entsprechend also ein höheres Verständnis dazu sucht, und somit auch einen höheren Ansatz für "Menschlichkeit" (=gerechteres menschliches Verhalten) versucht zu entwickeln.

Der wichtigste Punkt:
Wenn sich nun aber dieser Mensch dieser "Fähigkeit" (im positiven Sinne) ANSTATT der gefühlten Persönlichkeitsstörung bewusst wäre - diese Suche und der Drang danach gar nicht mehr stattfinden würde - denn das (diese Suche nach Richtig/Falsch bzw Ethik & Moral) ja Teil der Störung ist. Er/sie sich ja Persönlichkeitsgestört empfindet bzw ist (durch Erziehung, Traumata) und AUFGRUND DESSEN immer erst nach diesen Wegen und Ansätzen sucht - was (emotional, gedanklich, ausführend) in jeder Situation richtiger oder falsch ist.

Heißt: wenn dieser Mensch diese Persönlichkeitsstörung, sprich - das Leid und die Ängste - überwinden würde (was nie wirklich passieren wird, wegen entscheidender "Prägung") - er/sie auch nicht mehr auf der Suche (Drang) wäre, in allen Situationen das absolut richtige und falsche Verhalten (die "höchste" oder absolute Ethik & Moral) rauszubekommen bzw für sich rauszuarbeiten.
Sprich: dieser Mensch könnte durch die fehlende Angst & Leid-getriebene Fokussierung - was richtig + falsch (Ethik & Moral) betrifft - daher bzw schlussendlich, auch nicht mehr diese "höchste Menschlichkeit" erreichen.
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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon hinterdemmond » 9. Dezember 2019, 09:44

Nessuno hat geschrieben:Stimmt das? - Was meint er damit? - Und was ist "Menschlichkeit"?

hm, normale menschlichkeit wäre schon, wenn man zb. einer alten oma über die straße hilft.
das kriege ich gerade noch hin, ohne irgendwelche großartigen ängste überwinden zu müssen.
was große menschlichkeit ist, weiß ich nicht. für mich ist es auch eine gewisse
verweigerungshaltung wie in diesem großartigen lied von den ärzten hier beschrieben:
https://www.youtube.com/watch?v=MRtuPB5p7nQ
ich laufe schon seit ich ein kleiner stift bin mit dieser einstellung durch die gegend.
normaleweise bringt sie einem nichts als ärger im alltag, aber wenn mal wieder irgendwelche nazis an der macht sind, hilft sie einem vielleicht zumindest nicht in die totale unmeschlichkeit abzurutschen, oder bzw. sogar etwas aktiv dagegen zu unternehmen. aber da müsste ich tatsächlich mich selbst überwinden, nicht nur dagegen sondern auch für etwas zu sein, sich entschieden auf eine seite zu stellen, sich etwas oder jemandem anschließen, ein teil von etwas zu werden. das ist die größte hürde. aber dann wäre man vermutlich wirklich in der lage großes zu tun.
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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon Indigocat » 9. Dezember 2019, 10:13

ToWCypress81 hat geschrieben:Heißt: wenn dieser Mensch diese Persönlichkeitsstörung, sprich - das Leid und die Ängste - überwinden würde (was nie wirklich passieren wird, wegen entscheidender "Prägung") - er/sie auch nicht mehr auf der Suche (Drang) wäre, in allen Situationen das absolut richtige und falsche Verhalten (die "höchste" oder absolute Ethik & Moral) rauszubekommen bzw für sich rauszuarbeiten.
Sprich: dieser Mensch könnte durch die fehlende Angst & Leid-getriebene Fokussierung - was richtig + falsch (Ethik & Moral) betrifft - daher bzw schlussendlich, auch nicht mehr diese "höchste Menschlichkeit" erreichen.
Das bedeutet im Klartext, wir haben die Wahl, entweder gut zu sein oder normal, so wie der Narzisst die Wahl hat zwischen erfolgreich sein oder normal... :rätseln:
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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon hinterdemmond » 9. Dezember 2019, 12:08

Indigocat hat geschrieben:Das bedeutet im Klartext, wir haben die Wahl, entweder gut zu sein oder normal, so wie der Narzisst die Wahl hat zwischen erfolgreich sein oder normal... :rätseln:

nein, ein narzisst hat die wahl entweder erfolgreich zu sein oder total abzulosen. ich lebe ja auf dem kiez und sehe hier täglich gescheiterte narzissten aus dem links-alternativen spektrum rumlaufen. das geh soweit bis hin zur obdachlosigkeit. wenn schon, denn schon. entweder alles oder nichts. "normal" dh. durchschnittlich ist nichts für sie. mit "normal" kannst du sie jagen.
als schizoider kannst du dich entscheiden, ob du gut bist und als arzt zb. deinen urlaub bei ärzte ohne grenzen verbringst, weil du eh keinen schatzi hast, mit dem du in urlaub fliegen kannst (und/oder du behandelst nach feierabend patienten ohne krankenkasse, weil du eh keinen schatzi hast, der abends auf dich zu hause wartet) und hättest du einen, dann würde er dir früher oder später sagen: "pah, du verdienst als krankeinhausarzt eh nicht die welt, und dann bist du abends auch noch nie zu hause, was kümmern dich die ganzen penner ohne krankenversicherung?" oder die mildere variante: "schatz, ich verstehe ja sehr gut, dass du helfen willst, aber unsere beziehung geht daran zu grunde!"
oder du hockst zu hause rum und guckst bescheuerte netflix-serien, mit oder ohne schatzi.
auch im abseits sterben helden. (clickclickdecker)

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Re: Höchste Menschlichkeit?

Beitragvon sdsdsdsv » 9. Dezember 2019, 16:02

Nessuno hat geschrieben:Fritz Riemann schreibt in "Grundformen der Angst" über Schizoide:

»Soviel ist jedenfalls sicher: wenn diese Menschen es vermögen, ihr Leid und ihre Ängste durchzustehen und zu überwinden, können sie höchste Menschlichkeit erreichen.«

Stimmt das? - Was meint er damit? - Und was ist "Menschlichkeit"?
Meine aus der Hüfte geschossene Antwort wäre, dass man in Notsituationen gezwungen ist, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dessen Wichtigkeit direkt spürt. Wer nie Hunger gelitten hat, der lässt schon mal etwas stehen, wirft mehr weg, richtet sein Essverhalten und seinen Geschmack z. B. nach seinem Freundeskreis und verwendet generell weniger Gedanken an seine Mahlzeiten. Andere sind sich des Wertes von Nahrung bewusst und gehen damit anders um. Hm, wieder so ein Bild.
Man kann eben der Frage danach, was menschlich ist, was wichtig für das gegenseitige Zusammenleben und einen selbst ist bequem ausweichen, solange alles stimmt und man sich nach der Mode oder Gruppen richten kann. Extreme Situationen konfrontieren dagegen zwangsläufig immer wieder mit grundlegenden Fragen, so dass der Blick klarer wird auf die Dinge, die da wichtig und die unwichtig sind, damit grundlegende Entscheidungen getroffen werden können. Das prägt den ganzen Charakter.

Vielleicht ist Menschlichkeit somit ein Platzhalter für all das, was eben nicht unwichtig ist.


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