SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Ein Leben in (völliger) Isolation? Du bist sehr introvertiert, ängstlich-vermeidend oder gar schizoid? Wie gehst du damit um?
Chrisp
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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon Chrisp » 17. Juli 2022, 08:56

Ich kann Deinen Ausführungen folgen und allgemein, nicht im Detail, zustimmen.
bluemoon:" Ich persönlich bin Überzeugt, dass den "Schizoiden" ohnehin nie gegeben hat. Man wird nur in dies Bild gepresst, wenn der schizoide Anteil an der Persönlichkeit stark ausgeprägt ist.

Von daher ist nicht das Krankheitsbild SPS verschwunden sondern im ICD 11 verzichtet man darauf es in eine Schublade mit dem Namen SPS zu sortieren."


Da jedoch komme ich nicht mehr mit.
Wenn es "DEN Schizoiden" nie gegeben hat, nicht gibt, kann es auch nicht DAS Krankheitsbild (die Schublade) : " DIE Schizoide Persönlichkeitsstörung" geben. Oder es gab/gibt diese Schublade, dann wird aber eben niemand da "rein passen", sondern wie Du sagst: "Man wird reingepresst"
Presst man einen Menschen in diese oder andere Schubladen, verkennt man wahrscheinlich weitere Persönlichkeitsanteile, weil die eben nicht in diese Schublade passen.

Und genau dem versucht das ICD 11 gerecht zu werden. Es gibt nicht DEN Schizoiden, nicht DIE Schizoide Persönlichkeitsstörung, diese Kategorie (Schublade) ist daher, deshalb abgeschafft. Verschwunden. Auch wenn man nach den neuen beschreibenden Merkmalen Vergleiche zur ehemaligen Kategorie und den entsprechenden Merkmalen "SPS" ziehen kann.

Vielleicht kommt man irgendwann wieder dazu Persönlichkeitsstörungen zu kategorisieren, bei der Borderliner PS macht man es ja (mit Begründung) immer noch, aber ob die Kategorien dann so ausfallen wie bisher ist fraglich.

Es gibt laut Neufassung den Oberbegriff: Persönlichkeitsstörung.

Bedeutet, dass der Mensch (ob ehemals schizoid oder narzisstisch oder...) "überdauernde, unflexible und dysfunktionale Erlebens- und Verhaltensmuster, die merklich von den Erwartungen der sozio-kulturellen Umgebung abweichen" (entwickelt) hat, die seit mindestens 2 Jahren seine Persönlichkeitsstruktur bilden. Ob er an dieser Struktur selbst leidet (oder andere oder gar keiner) wird in den beschreibenden Merkmalen festgestellt.
Während die ehemalige Kategorisierung in bestimmte Schubladen implizierte, dass jede dieser PS zwangsläufig Leid erzeugt -auch beim Betroffenen selbst, es sei ihm nur nicht bewusst. Jetzt wird explizit nachgefragt, ob und an welcher Stelle er es selbst als "Leid" beschreibt, empfindet. Einfach ausgedrückt: Leidet ein Mensch nicht am Mangel sozialer Kontakte, ist das auch nicht (s)ein Problem, obwohl die "Störung" im zwischenmenschlichen Bereich erkannt wurde.

Nachtrag:
M.E. ist genau das der (entscheidende) Punkt, der die Diskussion im alten Thread ausgelöst hat:
ursus hat geschrieben:
"Die Kontakte, die man im Beruf braucht, egal welchem, sind nicht intim. Ich kann mich mit tausend Leuten unterhalten. Das schlaucht auf Dauer (da Schizoide praktisch immer auch introvertierte sind), aber ich muss bei solchen Begegnungen nichts von meinem Inneren preis geben."
2 ost:
"Schön, wenn das dein Kriterium ist, woran du festmachst, was dich aufzehrt und was geht. Bei mir ist es leider anders. Wenn/falls ich damit nicht mehr die Kriterien einer Schizoidie erfülle, bin ich wohl doch falsch diagnostiziert. An meiner vorherigen Aussage, das alleine nur unter Menschen zu sein, mich schon aufzehrt, ändert das nur leider nichts. [:)] "


Während im einen Beispiel es "intime Beziehungen -das nicht Preisgeben-KÖNNEN des Inneren" sind/ist
ist es im anderen Beispiel das allgemeine Zusammensein MÜSSEN, das als "Problem" angesehen wird.

Nach neuem ICD lassen sich nun beide INDIVIDUELLEN Aussagen als "Leid" beschreiben, das dementsprechend eine unterschiedliche Behandlung erfordert, da unterschiedliche Bedarfe.
Es wird nicht mehr die Struktur als (gesamt) krankhaft behandelt, sondern da, wo sie Leid erzeugt. Oder besser: Das ist mit der Neufassung gewünscht, denn wie die Praxis aussehen wird, ist noch nicht abzusehen.

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon bluemoon » 17. Juli 2022, 12:06

Chrisp hat geschrieben:Da jedoch komme ich nicht mehr mit.
Wenn es "DEN Schizoiden" nie gegeben hat, nicht gibt, kann es auch nicht DAS Krankheitsbild (die Schublade) : " DIE Schizoide Persönlichkeitsstörung" geben. Oder es gab/gibt diese Schublade, dann wird aber eben niemand da "rein passen", sondern wie Du sagst: "Man wird reingepresst"


Die Frage war ja, ob es mit Einführung ICD-11 die SPS nicht mehr gibt. Meine persönliche Meinung ist, dass SPS noch nie eine eigenständige Krankheit war. Was es war, war eine Unterkategorie im Bereich der Persönlichkeitsstörungen. Eine Festlegung, die getroffen wurde, ohne dass es empirisch belegte Gründe dafür gab. (Man hätte genauso begründet auch andere Unterkategorien bilden können und die anders benennen.) Der Unterschied zu ICD-10 ist nun, dass man die Unterkategorien nicht mehr starr benennt sondern als Beschreibungen differenzierter darstellt.

[quote=2 ost]Schön, wenn das dein Kriterium ist, woran du festmachst, was dich aufzehrt und was geht. Bei mir ist es leider anders. Wenn/falls ich damit nicht mehr die Kriterien einer Schizoide erfülle, bin ich wohl doch falsch diagnostiziert.[/quote]

Das zeigt ja das Problem mit den Schubladen. Es ist das Übertragen von Erfahrungen von Einzelnen auf alle anderen Persönlichkeiten in der Schublade. Das funktioniert halt nicht. Insbesondere, wenn die Schubladen recht zufällig angelegt wurden.


B.T.W.:

Was ich auch interessant finde, ist die Sonderstellung der Borderliner. Ich versuche mir selber relativ bewusst ein Modell von der Persönlichkeit eines Gegenübers zu schaffen, um ein Gefühl für seine Motivationen zu bekommen. Zu erkennen, welche Persönlichkeit dahinter steckt. Bei Borderlinern hab ich dann das Problem, dass diese Persönlichkeit nicht stabil ist.

Als Bild stelle ich mir das mit den Persönlichkeiten so vor:
Ein gespanntes Tuch, was an einer Stelle leicht nach unten gezogen ist, darauf eine Kugel. Die Kugel stellt den Menschen dar. Die Kugel wird nun immer in Richtung dieser Stelle gezogen, kann sich aber, durch äußere Einflüsse und eigene Anstrengung auch im Umfeld bewegen. Die Position dieses Punktes (an dem das Tuch gezogen wird) entspricht der Persönlichkeit. (Im laufe der Entwicklung kann sich der Punkt auch verschieben und die Tiefe der Senke kann sich auch verändern). Um Interaktion mit anderen Menschen zu haben, muss ich quasi die Position meiner Kugel an die Position eines anderen Menschen bewegen. Je näher die Senke am Zentrum des Tuches ist, um so leichter fällt der Kontakt zu anderen Menschen, weil sich da die meisten aufhalten.

Bei Menschen mit Borderlinestörung habe ich das Gefühl, dass diese Senke im Tuch nicht ausgeprägt ist. Das ist das instabile. Dadurch haben sie eine Sonderstellung unter den Persönlichkeiten, da eine Verortung auf dem "Tuch" nicht dauerhaft möglich ist. Das führt auch dazu, dass sich die Position der Kugel jederzeit schnell und drastisch ändern kann.

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon Chrisp » 17. Juli 2022, 12:32

Oh wie schön, dann sind wir uns nun ja einig, dass entgegen Deiner ersten Meinungen, die SPS im ICD 11 verschwunden ist.

Bezüglich der BPS sehe ich es ein wenig anders:
Zur BPS wurden viele Langzeit-Studien durchgeführt und methodisch-systematisch gesammelt. Daraus hat sich ein "Störungsmodell" entwickelt, das wiederum empirisch geprüft wurde, so dass sich aus den zusammen getragenen, bewerteten, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Therapien entwickelt haben.
Die anderen (vorherigen) PS sind viel zu wenig untersucht, um daraus eben EINE Kategorie (ein Störungsbild, eine Schublade) basteln zu können.
Daher meine Aussage:
"Vielleicht kommt man irgendwann wieder dazu Persönlichkeitsstörungen zu kategorisieren, bei der Borderliner PS macht man es ja (mit Begründung) immer noch, aber ob die Kategorien dann so ausfallen wie bisher ist fraglich."

Vielleicht kommt man aber zu dem Ergebnis, dass PS sich nicht in bestimmten Kategorien zusammen fassen lassen?!

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon ToWCypress81 » 17. Juli 2022, 14:27

Hinweis: dies alles ausdrücklich nur mein eigenes Empfinden wiederspiegelt und so für andere nicht gültig oder richtig sein muss oder könnte.

Was würdet ihr vom Gefühl her sagen, wäre für euch besser:

wenn ihr zur Therapie geht, und ihr als Individuum (ohne Diagnose) aufgenommen werdet und ganz individuell jede eurer Probleme (ohne das eine Diagnose im Weg steht) ansprecht, was Erziehung, negative/traumatische Erfahrungen in den jeweiligen Altersabschnitten, genetische oder traumatische Vorerkrankungen der Eltern/Großeltern betrifft. Und daraufhin der/die Therapeut:in auf jede Einzelheit vollkommen individuell eingeht und diese mit euch bezogen auf die dadurch entstehenden Probleme die sich dadurch im Alltag für euch (stark) bemerkbar machen zu erkennen und zu verstehen um dadurch an diesen euch im Weg stehenden Emotionen, Denken oder Ängsten zu arbeiten oder euch dadurch Ängste, Denkweisen oder belastende Emotionen zu nehmen?

Oder in eine Therapie zu gehen, wo auf jedes eurer Probleme eingegangen wird, im Sinne all dieser oben genannten Punkte, aber immer im Verbund mit der euch gestellten Diagnose in Zusammenhang gebracht wird?

Denkt ihr somit, das eine Diagnose (Schublade) im Allgemeinen, sei es in einer Therapie oder eher alleine euch hilft eure individuellen Probleme die ihr als Individuum gemacht habt, mit individuellen Erfahrungen, Eltern usw und daher auch individuell lösen müsst - dabei hilft?

Wo kann eine Diagnose bezogen auf das direkte individuelle eingehen der Probleme in einer Therapie überhaupt hilfreich sein?

Diagnosen im psychischen Bereich habe ich bisher immer nur kennengelernt, helfen dabei den eigenen Status als Mensch (in der Problematik) anderen gegenüber zu erklären und vor allem das dieser anerkannt wird, obwohl ausser Experten und Mit-Leidtragenden denen man das erklärt keine:r Ahnung von all diesen Erkrankungen und Störungen hat (da diese nicht entsprechende Probleme/kein Interesse dazu haben).
Sowie damit zusammenhängend auch, das man sich als Mensch durch solch eine psych. Diagnose zugehörig empfindet. Dies wiederum wie ich finde die eigene Anerkennung als Mensch darstellt, im Sinne der eigenen (Selbst-) Sicherheit.

Wäre es aber aus diesen Punkten heraus betrachtet dann nicht besser Selbstsicherheit, ein Selbstverständnis und auch eine Anerkennung durch sich selbst, durch die individuelle Bewusstwerdung wie man ist zu bekommen, anstatt durch ein anerkennendes diagnostisches Zugehörigkeitsgefühl?
"Vergleiche dich niemals mit anderen. Vergleiche dich immer nur mit deinem früheren Ich". - R. M.

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon bluemoon » 17. Juli 2022, 14:59

Chrisp hat geschrieben:Oh wie schön, dann sind wir uns nun ja einig, dass entgegen Deiner ersten Meinungen, die SPS im ICD 11 verschwunden ist.


Ehrlich gesagt, hab ich meine Meinung nicht geändert. ;) Ich unterscheide einfach zwischen der SPS selber und dem Begriff. Das was die SPS ausmacht ist sowohl in ICD-11 als auch im ICD-10 vorhanden und benennbar. Das einzige was weggefallen ist, ist der Begriff. Wenn du willst die Schublade mit dem Etikett SPS ist weg, aber der Inhalt ist immer noch da und liegt immer noch zusammen auf einem Haufen. Wenn man möchte, kann man den nach wie vor SPS nennen.

In der Art hab ich auch DSM-5 verstanden, wobei ich weder ICD-11 noch DSM-5 zur Verfügung habe. Ich kenne bei beiden nur das, was darüber geschrieben wird. DSM scheint ohnehin differenzierter und härter abgrenzend zu sein.

Chrisp hat geschrieben:Zur BPS wurden viele Langzeit-Studien durchgeführt und methodisch-systematisch gesammelt. Daraus hat sich ein "Störungsmodell" entwickelt, das wiederum empirisch geprüft wurde, so dass sich aus den zusammen getragenen, bewerteten, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Therapien entwickelt haben.
Die anderen (vorherigen) PS sind viel zu wenig untersucht, um daraus eben EINE Kategorie (ein Störungsbild, eine Schublade) basteln zu können.


Die Begründung ist mir bekannt. Ich finde es nur bemerkenswert, dass genau die Persönlichkeitsstruktur, die in meinem persönlichen Persönlichkeitsstrukturmodell immer eine Sonderstellung eingenommen hat, nun auch im ICD-11 getrennt behandelt wird.

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon bluemoon » 17. Juli 2022, 15:29

ToWCypress81 hat geschrieben:Wo kann eine Diagnose bezogen auf das direkte individuelle eingehen der Probleme in einer Therapie überhaupt hilfreich sein?


Die richtige Diagnose ist die Voraussetzung, um eine geeignete Therapie zu finden. Die entsprechende Therapie muss dann an die Gegebenheiten angepasst werden.

Wenn du dir einen Knochen brichst, bringt dir eine Gesprächstherapie nicht viel bei der Heilung. Kann zwar sein, dass der Knochen auch ohne chirurgische Therapie wieder gut zusammen wächst und dir die Gesprächstherapie die Schmerzen erträglicher gemacht hat. Richtig zielführend finde ich das dennoch nicht.

Bei der Diagnose gebrochener Knochen werden vermutlich 3 Therapien in der richtigen Reihenfolge sinnvoll sein: Erstmal den Bruch richten (falls erforderlich). Dann kommt eine 2. Therapie zum Fixieren (z. B. Gips) und anschließend Reha.

Wie willst du ohne richtige Diagnose eine sinnvolle Therapie finden?

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon ursus » 17. Juli 2022, 17:34

bluemoon hat geschrieben:Die Frage war ja, ob es mit Einführung ICD-11 die SPS nicht mehr gibt. Meine persönliche Meinung ist, dass SPS noch nie eine eigenständige Krankheit war. Was es war, war eine Unterkategorie im Bereich der Persönlichkeitsstörungen. Eine Festlegung, die getroffen wurde, ohne dass es empirisch belegte Gründe dafür gab. (Man hätte genauso begründet auch andere Unterkategorien bilden können und die anders benennen.) Der Unterschied zu ICD-10 ist nun, dass man die Unterkategorien nicht mehr starr benennt sondern als Beschreibungen differenzierter darstellt.


Wie schon mal gesagt, dienen Diagnose-Klassifizierungen wie die ICD in erster Linie zur Abrechnung, sie sind kein Diagnose-Lehrbuch oder Therapie-Leitfaden. Trotzdem sind die Namen die wir verwenden nicht unwichtig, denn wie wir etwas einteilen und benennen beeinflusst die Art und Weise wie wir über etwas denken.

Bei Infektionskrankheiten spielt das keine so große Rolle. Bei entsprechenden Symptomen schickt ein Arzt / Ärztin eine Probe ins Labor, dort wird der Erreger mitsamt vorhandenen Resistenzen bestimmt, und entsprechend eine Therapie eingeleitet.

Bei psychiatrischen / psychologischen Diagnosen ist es im Gegensatz dazu vielmehr ein Modell, mit dem der Arzt / die Ärztin versucht gleichartige Präsentationen zusammen zu fassen, und im Ansatz dafür eine geeignete Therapie zu entwickeln. Aber die Modelle sind doch irgendwie frei erfunden.

Als Beispiel die Diagnosen vom Psychoanalytiker Sigmund Freud: vieles frei erfunden und anschließend mit erfunden/gefälschten Daten gerechtfertigt. Der Mann war ein Betrüger. Er gilt aber teilweise immer noch als einer der in Ehren gehaltenen Urväter der Psychiatrie.

Wenn es den Begriff “Schizoide Persönlichkeitsstörung” nur noch als verworfenen historischen Begriff gibt, dann werden zukünftige Therapeuten allmählich nur nach dem neuen Model über Persönlichkeitsstörungen nachdenken. Neuere Therapien werden sich unter diesem neuen Modell entwickeln. Wenn das Modell aber unpräzise oder verkehrt ist, dann ist anzunehmen dass die Therapien auch entsprechend schlecht funktionieren. Oder es ist eh egal, nach dem Grundsatz: “Lieber Patient, es ist gut dass wir darüber geredet haben. Hier ist Ihre Rechnung”. ;)

Edit: Für interessierte, hier ein Link zu einer Kritik an Freud: https://www.schlaglichter.at/die-demontage-freuds/

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon 2ost » 17. Juli 2022, 17:48

ToWCypress81 hat geschrieben:Hinweis: dies alles ausdrücklich nur mein eigenes Empfinden wiederspiegelt und so für andere nicht gültig oder richtig sein muss oder könnte.
Da alle mir in lettzter Zeit sehr vorsichtig hier scheinen und mir auch schon mal mitgeteilt wurde, mich doch mal zu beruhigen, während ich ausgesprochen entspannt da eigentlich grad war: Auch meine Antworten sind rein persönlich und bitte weder als Angriff, noch absolutionistisch zu verstehen!
ToWCypress81 hat geschrieben:Was würdet ihr vom Gefühl her sagen, wäre für euch besser
Das hier:
ToWCypress81 hat geschrieben:Oder in eine Therapie zu gehen, wo auf jedes eurer Probleme eingegangen wird, im Sinne all dieser oben genannten Punkte, aber immer im Verbund mit der euch gestellten Diagnose in Zusammenhang gebracht wird
...
ToWCypress81 hat geschrieben:Denkt ihr somit, das eine Diagnose (Schublade) im Allgemeinen, sei es in einer Therapie oder eher alleine euch hilft eure individuellen Probleme die ihr als Individuum gemacht habt, mit individuellen Erfahrungen, Eltern usw und daher auch individuell lösen müsst - dabei hilft?
Ja.
ToWCypress81 hat geschrieben:Wo kann eine Diagnose bezogen auf das direkte individuelle eingehen der Probleme in einer Therapie überhaupt hilfreich sein?
Wenn ich nicht unter Leute gehen mag, respektive sogar gereizt werde, wenn ich es tu, hinge die weiterführende Therapie meines Erachtens stark von der Ursache dafür ab, die durch eine Diagnose schon gut umrissen wäre:

  1. Als Autist wäre vermutlich eine Reizfilterschwäche das Problem und die Schaffung von reizärmeren Umgebungen (entweder direkt oder mittels Hilfsmitteln, wie etwa ANC-Kopfhörern), die Entstigmatisierung des Stimmings und/oder akzeptable Rückzugsmöglichkeiten eine mögliche Lösung für das Problem der Gereiztheit.
  2. Eine selbstunsichere oder sozialphobische Person könnte man kontrolliert - z. B. so - an die stressende Situation heranführen, sie so langsam zu desensibilisieren.
  1. Ein Versuch den Autisten zu desensibilisieren, indem man ihn verstärkt dem Stressor aussetzt, würde vermutlich kontraproduktiv zu einem Overload dort führen und zwar jedes Mal und egal, wie oft man das probierte, bzw. würde es bei verstärkten Versuchen vermutlich schlimmer nur werden.
  2. Einen selbstunsicheren oder sozialphobischen Menschen wiederum in dunkle, reizarme Umgebungen zu befördern und mit ANC-Kopfhörern nur raus zu schicken, würde - vermute ich - das dortige Störungsbild wohl eher nur befeuern, statt es zu mildern.
Ein Störungsbild also ("Unter Leute gehen stresst mich!") verlangt hier unterschiedliche Behandlungsstrategien. Wenn ein Therapeut da ohne jede Hintergrundinformation ran geht, muss das Hilfreiche vom Schädlichen erst einmal geschieden werden, was im besten Fall Zeit kostet, im schlimmsten Fall traumatisiert. Mit einer Diagnose (Schublade) in der Hinterhand, gibt es schon einmal eine grobe Richtung und die dadurch eingesparte Zeit kann gleich in die von dir beschriebene umfassende und individuell durchgeführte Therapie dann investiert werden.
ToWCypress81 hat geschrieben:Diagnosen im psychischen Bereich habe ich bisher immer nur kennengelernt, helfen dabei den eigenen Status als Mensch (in der Problematik) anderen gegenüber zu erklären und vor allem das dieser anerkannt wird, obwohl ausser Experten und Mit-Leidtragenden denen man das erklärt keine:r Ahnung von all diesen Erkrankungen und Störungen hat (da diese nicht entsprechende Probleme/kein Interesse dazu haben).
Ich habe, außer Experten und "Mitleidenden", niemandem gegenüber meine Störung je erwähnt, geschweige denn erklärt. Aber ich habe in manchen Büchern zur SPS hilfreiche Tips schon gelesen, oder auch was bei anderen Betroffenen, teilweise aus Zeiten, da ich noch nicht einmal auf der Welt war, geholfen hat und das teilweise dann auch bei mir dann versucht. Ich habe angefangen zu erforschen, was die Ursache bei mir hierfür sein könnte und vergangenes "Fehlverhalten" von mir nachsichtiger zu betrachten gelernt.

Ohne Diagnose würde ich mich wohl immer noch für einen Freak halten, der sich einfach nicht genug anstrengt - sei es weil zu dumm oder faul oder...
ToWCypress81 hat geschrieben:Sowie damit zusammenhängend auch, das man sich als Mensch durch solch eine psych. Diagnose zugehörig empfindet.
Das tue ich wohl, ja!
ToWCypress81 hat geschrieben:Wäre es aber aus diesen Punkten heraus betrachtet dann nicht besser Selbstsicherheit, ein Selbstverständnis und auch eine Anerkennung durch sich selbst, durch die individuelle Bewusstwerdung wie man ist zu bekommen, anstatt durch ein anerkennendes diagnostisches Zugehörigkeitsgefühl?
Ich schaffe nicht einmal ansatzweise das, was andere schaffen. Ich bin beziehungslos, was allgemein als Manko gilt. Das ohne regelmäßige Kontakte auszukommen erfrischend sein kann, habe ich nicht einmal geahnt, da mein Umfeld mir vermittelte, dass Einsamkeit und Elend zwingend daraus erwachsen müssten. Ich hatte, kurz gesagt, vor der Diagnose nicht die geringste Ahnung, was genau mich stresst und belastet.

Plus: Ich bin einfach kein Mensch für Therapien. Ich habe es kurz versucht, nach der Diagnose. Ich habe ein bisschen davon auch während der Diagnosefindung noch erlebt. Es gibt mir absolut nichts. Mit der Diagnose habe ich lesen und lernen können. Ohne Diagnose (und ohne Therapie, die für mich einfach nichts zu sein scheint und die ich um ihrer selbst willen auch nie genutzt hätte) würde ich mich ergo immer noch für unintelligent und faul halten, würde mir keine Ausgleichszeiten schaffen oder gönnen, mich zu erholen (da ich "zu meinem Wohle" vermutlich heute noch kotraproduktiv mich weiter bemüht aktiv/sozial verhielte, statt Stressoren nun zu vermeiden, wo möglich). Ich würde mich also für einen Versager halten und weiter nach Dingen streben, die mein Umfeld mir als Mittel gegen meinen flachen Affekt z. B. verkaufen will (Karriere, Besitz, soziale Kontakte, Hobbies, etc.)

Mit der Diagnose (und ohne Therapie, die ich, um ihrer selbst willen, einfach nie versucht hätte) aber habe ich gelernt, mich besser zu verstehen, mich beispielsweise nicht als Monster zu fühlen, weil ich etwa Leid, anders als andere, nicht in gleicher Weise spüre. Mit der Diagnose habe ich mir erlaubt, beruflich herunterzufahren und mich nicht als Versager dort zu fühlen, wo ich, der Störung wegen, nicht leisten kann, was andere leisten, etc. Ich mache mir sehr viel weniger Selbstvorwürfe und weiß an welchen Stellen ich schrauben muss, meine Situation zu verbessern (es auch zu tun, ist dann aber noch ein anderes Thema) und ich habe der Diagnose wegen Orte wie diesen hier aufgesucht, was mir auch schon sehr geholfen hat. In ein Forum für generelle Persönlichkeitsstörungen mit auch extrem selbstdarstellerischen, extrem anhänglichen, extrem verletzlichen, extrem manipulativen Menschen, etc., wäre ich vermutlich gar nicht erst eingestiegen, da ich mich dort, anders als hier, in den meisten Menschen dort, vermutlich nicht einmal ansatzweise wiedergefunden hätte.

Ich bin nicht die Schublade
und die Schublade ist nicht ich.
Aber die Schublade war und ist ein guter Einstieg für mich, mich tiefer in die Materie einzugraben.

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon bluemoon » 17. Juli 2022, 18:33

ursus hat geschrieben:
Als Beispiel die Diagnosen vom Psychoanalytiker Sigmund Freud: vieles frei erfunden und anschließend mit erfunden/gefälschten Daten gerechtfertigt. Der Mann war ein Betrüger. Er gilt aber teilweise immer noch als einer der in Ehren gehaltenen Urväter der Psychiatrie.



Heute würde ich so jemanden als Visionär bezeichnen. Das Problem mit Visionen ist, dass es keine Belege gibt (ansonsten wäre es ja keine Vision mehr sondern eine Erkenntnis). Die Belege müsste man sich hart erarbeiten, wofür viele Visionäre nicht die Geduld haben. Immerhin hat er die Erkenntnis gehabt, dass das, was die Kollegen zu seiner Zeit gemacht haben, auch nicht gut für die Patientinnen war. Ich denke schon, dass er von seiner Vision überzeugt war. Für einen Betrüger spielen Überzeugungen keine Rolle. Außerdem hat er etwas ins Rollen gebracht. Das ist ja auch schon eine Leistung.

ursus hat geschrieben:Wenn es den Begriff “Schizoide Persönlichkeitsstörung” nur noch als verworfenen historischen Begriff gibt, dann werden zukünftige Therapeuten allmählich nur nach dem neuen Model über Persönlichkeitsstörungen nachdenken. Neuere Therapien werden sich unter diesem neuen Modell entwickeln. Wenn das Modell aber unpräzise oder verkehrt ist, dann ist anzunehmen dass die Therapien auch entsprechend schlecht funktionieren.


Genau das findet ja ständig statt. Auch früher schon. Was unter dem Begriff “Schizoide Persönlichkeitsstörung” genau verstanden wird hat sich in der Vergangenheit ja auch immer wieder verändert.

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Re: SPS in der kommenden ICD-11 nicht mehr enthalten?

Beitragvon ursus » 17. Juli 2022, 19:17

bluemoon hat geschrieben: Ich denke schon, dass er von seiner Vision überzeugt war. Für einen Betrüger spielen Überzeugungen keine Rolle. Außerdem hat er etwas ins Rollen gebracht. Das ist ja auch schon eine Leistung.

Ich stimme dir zu dass er von seiner Theorie (und seiner eigenen Genialität) überzeugt war, aber ein Betrüger war er trotzdem. Er war vom Typ “Blender”. Um seine Theorie zu untermauern, hat er Fallberichte die die Theorie unterstützten frei erfunden, und andere Patientenbegegnungen, die im Widerspruch zu seinen Theorien standen einfach unterschlagen. Darin lag der Betrug.

Er publizierte auch über seinen Erfolg einen Freund von Morphinsucht geheilt zu haben, und verschwieg in der Publikation dass der Freund durch ihn stattdessen Kokainsüchtig wurde, und in der Folge elendiglich verstarb (https://www.focus.de/wissen/mensch/psychologie/die-dunkle-seite-des-seelenheilers-sigmund-freud_id_1831534.html). Auch keine lautere Vorgehensweise.

Die von Freud begründete Psychoanalyse wird heute zu recht als Pseudowissenschaft abgetan. Ein Gebilde dass so konstruiert ist dass es sich automatisch selbst bestätigt aber durch nichts widerlegt werden kann (http://www.verhaltenswissenschaft.de/Psychotherapie/Psychoanalyse/psychoanalyse.htm#Kritik).


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