Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

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Kiki Dee
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Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon Kiki Dee » 31. Mai 2021, 21:33

Guten Abend,
ich heiße Kiki, bin Mitte 20 und bin ohne Gefühle aufgewachsen. Na ja, nicht ganz. Zumindest kenne ich Scham und Angst. Aber das war's dann auch schon so ziemlich. Positive Gefühle sind mir genauso fremd wie z. B. Wut, Hass, Ekel usw. Ich wurde auch von einem Familientherapeuten als Roboter bezeichnet. Ein anderer Therapeut hat mir gesagt, dass ich eventuell eine schizoide Persönlichkeitsstörung haben könnte. Aber ob das stimmt, weiß ich nicht, weil das mein einziger Termin war. Es ist verdammt schwer, einen Therapieplatz zu finden. Die Gefühllosigkeit ist nicht mein einziges Problem. Ich habe auch kein normales Körperverhältnis, weshalb man mir in einer Klinik fast schon einreden wollte, dass ich sexuell missbraucht worden sei. Ich wurde aber nie missbraucht! Gott sei Dank. Ich nehme auch meine Umwelt so gut wie immer als unwirklich und künstlich war, das kann man kaum erklären, das ist wie benebelt irgendwie. Das ist meistens schon unangenehm. Ich lebe alleine und hatte noch nie eine Beziehung. Ich habe einfach kein (bewusstes) Bedürfnis danach. Hobbies habe ich auch nicht. Im Alter von 18 und 19 hatte ich traumatische Erlebnisse, aber meine Störungen waren alle schon vorher da, und in meiner Kindheit habe ich meiner M3einung nach auch nichts traumatisches erlebt.
Ach ja, seitdem ich einmal im Alter von 20 ein positives Gefühl hatte, habe ich mich jeden Tag gefragt, was mit mir nicht stimmt und was ich eigentlich in den letzten Jahren verpasst habe. Das grenzt ja fast schon an ein Wunder, dass das überhaupt mal passiert ist. Ich wusste als Kind auch gar nicht, dass es sowas überhaupt gibt, denn ich kannte es nicht anders und habe mir auch nie Gedanken über Gefühle gemacht.

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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon orinoco » 1. Juni 2021, 00:09

Hi Kiki Dee,

erst mal willkommen hier.

Das mit der scheinbar traumafreien Kindheit könnte ein Trugschluß sein, weil man eben auch frühkindlich traumatisiert sein kann und das durch für ältere Kinder und Erwachsene vollkommen harmlose Ereignisse z.B. eine Mutter die Vollzeit arbeiten geht, die selbst psychische Probleme hat, Beziehungsproblem der Eltern, Heim- oder Krankenhausaufenthalt, Mutterroutine bei Nachgeborenen u.v.m.
Daran hat man später nur keine Erinnerung, weil erst ab drei Jahren der Hippocampus im Gehirn "online" geht. Und damit ist diese "sitting duck"-Phase auch vorbei.
Das erklärt dann auch warum die Probleme schon vor 18/19 da waren. Das mit 18/19 war dann nur eine Re-Traumatisierung bzw. die Triggerung des Traumas. Traumata sind immer Ereignisse die vom Betroffenen als lebensbedrohlich wahrgenommen werden und mit Todesangst verbunden sind. Für Erwachsene und größere Kinder sind das i.d.R. wirklich lebensbedrohliche Ereigenisse wie Krieg, Fronteinsatz, sexueller Missbrauch und Vergew@ltigung, Flucht und Vertreibung, schwerer Unfall etc. Unter 3 und ab 1½ Jahren sind es vermeintlich banale Ereignisse die das Kind von seiner Mutter als Lebensversicherung entfremden und es sich verlassen fühlt, was dann Todesangst auslöst. Näheres dazu in meinem Blog (s.u.)
Generell erfordert eine solche Traumatisierung einiges an Detektivarbeit um durch erwachsene Zeitzeugen (Eltern, Großeltern, Verwandte, Geschwister) herauszufinden ob und was damals passiert ist, weil man sich eben selbst nicht daran erinnern kann.
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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon Insuffizienz » 1. Juni 2021, 07:15

Hallo Kiki Dee.

Auch wenn du danach nicht gefragt hast, aber ich denke hier - wie so oft - an emotionalem Missbrauch/emotionaler Vernachlässigung. Mich würde da interessieren, wie waren deine Erzieher (meist ja Eltern) und dein Umfeld so in der Kindheit? Einfühlsam, offenherzig, unterstützend, respektvoll? Kalt, zurückgezogen, abwesend? Aufbrausend, respektlos übergriffig, kontrollsüchtig, abwertend? Vielleicht besteht da ja ein Zusammenhang mit deinem schlechten Zugang zu deiner Gefühlswelt.

Liebe Grüße

Kiki Dee
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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon Kiki Dee » 1. Juni 2021, 17:31

Danke für die Antworten.
Vielleicht habt ihr recht. Ich habe mich als Kind für meine Mutter verantwortlich gefühlt. Ich glaube sie war überfordert, und vielleicht war sie ja auch nicht ganz gesund. Meine Mutter lebt nicht mehr, deshalb kann ich sie jetzt nicht mehr fragen wie ich so als Kleinkind war. ABER als ich 10 war hat sie mir erzählt, dass ich als Baby gar keine Emotionen gezeigt habe, meine Zwillingsschwester hingegen schon. Auf Fotos, auf denen ich ein Baby war, sehe ich auch immer unglücklich aus. Meine Zwillingsschwester und ich hatten das Kiss-Syndrom und konnten erst mit 1,5 Jahren eingerenkt werden. Wir waren auch öfters mal im Krankenhaus und waren insgesamt oft krank. Im Gegensatz zu mir ist meine Zwillingsschwester aber ziemlich normal. Wir sind zweieiige Zwillinge.

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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon bluemoon » 2. Juni 2021, 09:14

Kiki Dee hat geschrieben:Wir sind zweieiige Zwillinge.


Hallo,

das kann schon ein Grund sein. Die Forschungen deuten darauf hin, dass die Gene zusammen mit der Umgebung eine Rolle spielen. Die Wechselwirkungen sind dabei recht komplex und wohl wenig erforscht.

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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon orinoco » 2. Juni 2021, 20:37

Hallo Kiki Dee,

nach deinen Schilderungen scheint das eine ziemlich komplizierte Gemengelage (gewesen) zu sein. Äußerungen von Familienmitgliedern sind zwar generell hilfreich, sollten aber auch kritisch bewertet werden, denn es ist ja auch immer deren subjektive Sicht, die nicht immer unvoreingenommen sein muss z.B. um von eigenen "Fehlern" oder Schuldgefühlen abzulenken und sich nicht der eigenen Verantwortung stellen zu müssen. Kann sein, muss aber nicht. Nur eben mit Vorsicht "geniessen".

Generell, was Zwillinge betrifft: selbst bei eineiigen Zwillingen und ganz ohne Traumatisierung gibt es Persönlichkeitsunterschiede, klassisch: "Innen-" und "Außenminister". Also auch bei vollkommen gleichen genetischen und sozialen Bedingungen gibt es Unterschiede in der Persönlichkeitsentwicklung. Ich lehne mich mal aus dem Fenster und vermute: unter traumatisierenden Bedingungen können sich diese verstärken. Insbesondere was die Kompensation betrifft halte ich es für möglich, dass komplett andere Strategien verfolgt werden, wie einerseits manisch, aggressiv, narzistisch, also eher extrovertiert, oder eben mehr introvertiert: zurückziehend, ernst, still (leidend), schizoid. Es könnte also sein, dass die Zwillingsschwester auch ihre Probleme hat, aber (bis jetzt) "besser" oder eben einfach anders, sozial akzeptierter/kompatibler kompensiert. Oder sie wurde vielleicht aufgrund ihres emotional responsiveren Verhalten von der Mutter (unbewußt) bevorzugt, was genug Resilienz war um eine vergleichbare Traumatisierung zu verhindern bzw. die emotionale Autoregulation besser zu erlernen.

Was die bereits verstorbene Mutter betrifft: nach deinem Alter zu urteilen ist sie relativ jung gestorben. Ich will nicht nach den näheren Umständen fragen und allgemein bleiben: bestimmte nicht natürliche Todesursachen wie z.B. Herzversagen oder Krebs können ein Hinweis auf ein schon bei der Mutter bestehendes psychisches Problem hinweisen, das sich tradiert hat.

Noch ein Hinweis: die eigene Erfahrung und Erinnerung als älteres Kind mit der Mutter lässt auch Rückschlüsse auf die kritische Zeit zwischen 1½ und 3 Jahren zu. So wie die Mutter später war, war sie ja im wesentlichen auch vorher schon. Dann muss man noch kombinieren ob das für ein Kleinkind in der Phase der "seelischen Geburt" traumatisierend war z.B. wenn eine Mutter selbst emotional eher kühl zu einem war, dann war sie es zu einem als Kleinkind wahrscheinlich auch schon und das kann schon für eine Traumatisierung ausreichend gewesen sein. Auch die eigene Reaktion wie eben sich für die Mutter verantwortlich zu fühlen (obwohl es umgekehrt sein müsste) würde ich als ein Zeichen für eine Kompensation einer solchen Traumatisierung ansehen. Also auch aus späterem eigenen Verhalten und dem der Mutter lassen sich Rückschlüsse ziehen.

Alles in allem: wundern würde ich mich da nicht über eine frühkindliche Traumatisierung, vor allem wenn man bedenkt welch leichtes Ziel man in dieser Zeit darstellt ("sitting duck").
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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon Kiki Dee » 12. Juni 2021, 22:26

Hallo Orinoco,
es stimmt, meine Mutter ist an einer schweren Krankheit gestorben. Vielleicht war ja wirklich ein Trauma daran schuld.
In den letzten Tagen habe ich mir Videos von Dami Charf auf YouTube angesehen. Außerdem habe ich in deinem Blog gelesen. Inzwischen glaube ich, dass an dieser ganzen "Traumageschichte" wirklich was dran ist. In meiner gesamten Familie (also auch Großeltern, Geschwister der Eltern etc.) hat es viele Schicksalsschläge und schlimme Krankheiten gegeben. Außerdem kommen mir meine beiden Omas auch nicht ganz normal vor. Das klingt jetzt zwar mies, aber es ist so. Die haben mir beide mal erzählt, was sie alles in ihrer Kindheit erlebt haben und das waren wirklich schlimme Sachen. Bestimmt hat sich das auch auf meine Eltern ausgewirkt.
Was ich mich frage ist, ob meine Emotionslosigkeit wirklich so ein schizoides "Ding" ist oder ob das eher narzisstisch ist. Ich wollte nämlich als Kind meine Mutter nicht enttäuschen und war deshalb fleißig in der Schule und im Haushalt. Ich habe ständig bei allen nach Anerkennung gesucht und es war mir sehr wichtig, gute Leistungen zu erbringen. Ja, ich war ganz schön perfektionistisch. Ich hatte ab meinem zehnten Lebensjahr immer wieder heftige Magenschleimhautentzündungen, ausgelöst durch negative Gedanken. Ich hatte nämlich starke Angst, in der Schule zu versagen und meine Mutter zu enttäuschen. Ein einziger ängstlicher Gedanke hat einen "Messerstich" in meinem Magen ausgelöst. Und die hatte ich im Unterricht ständig. Also war nach kurzer Zeit mein ganzer Magen entzündet und ich bekam Medikamente. Außerdem war ich übertrieben besorgt um die Gesundheit meiner Familienmitglieder und auch um meine Gesundheit. Meine Geschwister haben mich als "Hypochonder" und als "übersensibel" bezeichnet. Außerdem bin ich als Kleinkind bei jeder Kleinigkeit in Tränen ausgebrochen, allerdings ohne dabei etwas zu fühlen.
Was ich aber nicht glaube ist, dass ich ein Psychopath oder sowas bin. Im Internet habe ich nämlich gelesen, dass sich Psychopathen vor allem durch Emotionslosigkeit auszeichnen. Aber das passt irgendwie nicht zu mir, weil ich nie so ein antisozialer Mensch war. Ich habe nie andere Kinder gemobbt, im Gegenteil, ich und meine Schwester haben gemobbte Kinder in Schutz genommen. Ich habe nie Tiere gequält und auch nicht getötet. Horrorfilme tue ich mir nicht an. Sowas ist kein Genuss für mich, sondern der reinste Stress. Da merke ich schon, dass es mir richtig schlecht geht und ich Angst vor so etwas habe. Ich habe auch als Kind in meinem Zimmer gesessen und über die "armen Kinder in Afrika" geweint, aber ohne dabei etwas zu fühlen, und ich wollte so ein Kind adoptieren, "wenn ich groß bin". Und es hat auch Momente gegeben, wo ich tatsächlich ganz kurz was Negatives gefühlt habe oder zumindest körperliche Schmerzen hatte, wenn ich mir Sorgen um jemanden gemacht habe oder etwas schlimmes im Fernsehen gesehen habe.
Ich erinnere mich z.B. an eine grässliche Szene aus einem Drama oder sowas, die ich mal vor ein paar Jahren auf YouTube gesehen habe.
Da hat ein etwa dreißigjähriger Mann mit einer Teenagerin geschlafen. Das ganze wurde aber zum Glück nicht explizit gezeigt, sondern quasi nur die Gesichter. Ein normaler Mensch hätte in dem Moment sicherlich Ekel oder Hass oder sowas empfunden. Ich aber hatte heftige körperliche Schmerzen in den Armen, Beinen und im Bauch. Total kurios. Ich hab gemerkt, wie sich mein Gesicht zu einer Grimasse verzogen hat. Ich musste dann ganz schnell wegschalten. Wenn ich die Mutter gewesen wäre, hätte ich diesen "Mann" am liebsten verprügelt. Das wiederum finde ich jetzt mal ganz normal. Meine Freundinnen und Schwestern können solche Sachen auch nicht ab, und hätten garantiert auch so gedacht.
Oh man. Jetzt glaube ich wirklich, dass ich mich einfach durch mein ganzes Leben so durch "dissoziiert" habe. Ich bin ganz sicher kein Engel oder sowas, aber ein Psychopath bin ich glaube ich auch nicht.
Das ist jetzt echt ein langer Text geworden, upsi.

Viele Grüße

Kalliope
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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon Kalliope » 13. Juni 2021, 15:25

Hallo @Kiki Dee,
Dein letzter Beitrag lässt mich wieder an etwas denken, was ich meine, auch bei vielen diagnostizierten Schizoiden beobachtet zu haben (aber auch bei denen, die ich privat kenne). Nämlich, dass es unter jenen (also diagnostiziert Schizoiden) mind. einen Anteil gibt, die "eigentlich" so etwas wie hyper-sensibel sind. Mir scheint dann die "Gefühllosigkeit" wie eine Art Überkompensation, die als Schutzwall dient.
Ich selber sortiere mich auch als HSP ein, alllerdings in keinem übermäßig ausgeprägten Maße, und empfinde diese eigene Eigenschaft schon häufig als stressig und belastend, weil es für mich gefühlt mehr Anstrenung bedarf, um eine gewisse Resilienz gegenüber best. Situationen und Reizen aufzubauen. Bis hin dazu, dass diese kaum erreichbar ist.
Diesbezüglich mental etwas "grobmotorischere" Menschen haben es da gefühlt häufig einfacher.
"In Wirklichkeit ist der andere Mensch Dein empfindlichstes Selbst in einem anderen Körper" Khalil Gibran
"Das Ideal einer vollkommenen Gesundheit ist bloß wissenschaftlich interessant. Krankheit gehört zur Individualisierung." Novalis

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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon orinoco » 13. Juni 2021, 23:38

Hallo Kiki Dee,

je mehr du über die schreibst, desto sicherer bin ich mir, dass da eine frühkindliche Traumatisierung vorliegt. Am besten bzw. sichersten wirst du selbst sein, wenn du anfängst das Puzzle deines Lebens immer weiter zusammen zu setzen und am Ende das große Ganze zu sehen. Andere, selbst Profis, sind da zu weit weg. Es gibt niemand zweites der dich so kennt wie du selbst und ein besserer Detektiv wäre. Ich kann bestenfalls nur Hilfestellungen und Anleitungen dazu geben.

Was deine (scheinbare) "Emotionslosigkeit" betrifft, kann es sein, dass du eigentlich eben ein sehr emotionaler Mensch bist. So wie du es schilderst zeigst du ja auch emotionale Reaktionen auf bestimmte, triggernde Situationen. Es scheint nur so zu sein, dass deine emotionale Reaktion - eben aufgrund nicht oder kaum erlernter Autoregulation - manchmal kein Limit zu haben scheint und droht in Todesangst abzugleiten. Und wie du wahrscheinlich schon die erste Todesangst durch Dissoziation, sprich Abspaltung der Gefühle von deiner unmittelbaren Wahrnehmung, im wahrsten Sinne des Wortes überlebt hast, so "regulierst" du auch jetzt noch so - unbewußt - Emotionen, die dich zu überwältigen drohen, was sich dann wie "Emotionslosigkeit" anfühlt. Man kann das mit einer Selbstbetäubung vergleichen. Aber die Gefühle sind ja nicht weg, sondern nur verdrängt. Insbesondere in jungen Jahren wo es darauf ankommt seinen Platz in der Gesellschaft (Schule, Ausbildung, Beruf, Partnerwahl, Familie) zu finden ist das auch eine "vernünftige" Strategie um sich nicht selbst im Weg zu stehen. Aber die Probleme sind damit nicht weg, sondern nur verdrängt und wenn irgendwann der Druck von außen nachlässt und man Zeit findet über sich und sein Leben nachzudenken, dann kommt das wieder hoch. Das ist dann meist erst mal sehr schmerzhaft, auch weil man sich diesen emotionalen Zusammenbruch meist nicht erklären kann. Ich würde daher eher von einer schizoiden "Scheinemotionslosigkeit" sprechen, was in Anbetracht der traumatischen Umstände auch noch eine normale Reaktion auf unnormale Umstände darstellt. Psychopathische Züge kann ich so nicht erkennen.

Was den Zusammenhang zwischen psychischen Problemen und psychosomatischen Erkrankungen betrifft, liegt da eine relativ einfache kausale Beziehung zu Grunde: unsereins hat einfach mehr Stress, weil nur schlecht reguliert, dadurch ein chronisch erhöhtes Level von Stresshormonen im Körper und die wirken eben chronisch toxisch, wir vergiften uns über Jahrzehnte quasi selbst, was in letzter Konsequenz eben zum vorzeitigen Tod führt.

Die Angst vor grausamen oder gewalttätigen Filmszenen kenne ich von einem Fall aus meinem privaten Umfeld. Ich selbst habe dieses Problem weniger, weshalb ich es damals auch nicht gleich verstanden habe, es aber Dank guter Kommunikation zumindest respektieren konnte. Wir haben dann die Filme nach "FSK <Vorname der Person>" ausgesucht, da die normalen, alterabhängigen FSK-Angaben nicht das abbildeten was ging und was nicht. Generell denke ist es die beste Lösung solche Trigger zu vermeiden, was voraussetzt, dass man sich ihnen bewußt ist, dass sie einem nicht gut tun. Und auf der anderen Seite durch Selbstwirksamkeit, Kontrolle über das eigene Leben und Sorge für das Wohlergehen anderer ("Geben ist seeliger denn nehmen") wie ehrenamtliche Tätigkeit oder ein Haustier, die eigene Resilienz zu stärken und den Stress - soweit dies mit externen, nicht gesundheitsschädlichen Faktoren möglich ist - zu reduzieren. Von selbstgefährdenden Methoden bzw, exzessive Übersteigerung wie Alkohol, Drogen, Ritzen, aber auch Essen, Workaholic, Kontrollwahn, Aufopferung für andere ist abzuraten. Da das richtige Maß zu finden muss man auch erst mal lernen und eben auch erst mal verstehen warum es nicht gut ist aus einem Problem zwei zu machen. Letzteres gilt auch für die Partnerwahl, da man nicht selten dazu neigt sich einen Partner auszusuchen, der ein ähnliches Problem hat und dann haben schnell beide Partner zwei Probleme statt einem. Wenn man Bescheid weiß sollte man da besser Vorsicht walten und sich nicht zu sehr von den eigenen (Liebes-)Gefühlen leiten lassen. Das ist dann schon die höhere Schule der Lebensbewältigung - wenn es denn mit einem Partner klappt und die Beziehung nicht scheitert.

Es kann in Familien übrigens regelrechte Traumata-Karrieren über die Generationen hinweg geben, speziell die mütterliche Linie, da davon maßgeblich abhängt ob sich ein Trauma tradiert oder nicht.
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Re: Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen

Beitragvon AllEinSein » 19. Juni 2021, 11:24

Hallo Kiki Dee!
Deine großen und vielen Schwierigkeiten in deinem ganzen noch jungen Leben haben mich sehr berührt. Zunächst wünsche ich dir, dass du noch einen Zugang zu Lebensfreude findest! Bei mir waren auch die meisten Jahre meines Lebens eher qualvoll, aber soweit ich das einschätzen kann, nicht so schlimm wie bei dir. Außerdem habe ich auch in jungen Jahren schon mal schöne Monate erlebt. Kennst du so etwas überhaupt, ich meine, dass es auch mal schön sein kann?
Gefühllosigkeit gilt als Symptom bei SPS. Aus den Beiträgen geht ja schon hervor, dass du doch Gefühle hast. Scham und Angst sagst du selbst, außerdem hast du Mitgefühl (du denkst an andere und wie es ihnen geht) und Bestrebungen, z. B. perfektionistisch zu sein. Ich bin übrigens auch perfektionistisch, allerdings in einem Alter (Mitte 50), wo das schon nachlässt weil gar nicht mehr so viel Kraft da ist. Aus Angst einen Messerstich im Magen zu fühlen, so etwas kenne ich auch. Als ich jünger war, fühlte ich Gefühle auch als körperliche Schmerzen, z. B. wenn ich Liebe fühlte, war es ein angenehmer Schmerz. (Heutzutage finde ich keinen Schmerz mehr angenehm). Ich sehe es auch so wie in den Beiträgen schon geschrieben: Die Gefühle können so stark sein, dass sie kaum erträglich sind, weil man übersensibel ist, und die "Gefühllosigkeit" wird zum Schutz.
Mir kam dazu jetzt die Idee, dass das einer der Gründe ist, warum ich am liebsten alleine bin. Dann fallen nämlich alle Gefühle weg, die beim Zusammensein mit anderen kommen. Ich habe auch viel Angst. Und wenn ich doch mal mit Menschen zusammen war, dann schäme ich mich hinterher! Fast egal, wie das Zusammensein verlaufen ist.
Für mich ist "Selbsterkenntnis" und Erforschen der Ursachen im Leben immer sehr wichtig gewesen und hat mir weitergeholfen. Du bist ja auch auf diesem Weg und dabei wünsche ich dir viel Erfolg! Es wird bestimmt was bringen!
Vor kurzem habe ich etwas an mir erlebt, was ich bis dahin nur theoretisch wusste. "Schizoid" bedeutet ja "gespalten". Gemeint ist wohl die Spaltung von Gefühlen und Gedanken. Bei einem schriftlich ausgetragenen Streit mit einer Person, die ich sehr liebte und mochte (und davon gibt es nicht viele) zerstritten wir uns so heftig, dass ich meine Gefühle für sie "beenden" musste. Ich konnte ihr gegenüber aber nicht ausdrücken, dass sie mich verletzt hat, ich betrachtete alles rational. Aber da stimmt doch was nicht! (Selbsterkenntnis...) Erstmals erlebte ich bewusst bei mir eine strikte Trennung zwischen Gefühlen und Gedanken. Ich weiß natürlich nicht, ob das eine zutreffende Analyse ist.
Liebe Kiki, zum Thema Trauma kann ich nicht viel sagen. Für Sexualität habe ich mich nie interessiert, was wohl nicht "normal" ist, aber ich vermute bei mir eher "harmlosere" Ursachen, z. B. strenge katholische Erziehung, Sex als Tabu-Thema, keine Aufklärung, und dann noch sexuelle Belästigung (keine Vergewaltigung) durch einen älteren Nachbarsjungen. Ich denke, all das hat meine ohnehin vorhandene Abneigung gegen Sex nur verstärkt. (Natürlich kann man nicht nur beim Thema Sex traumatisiert sein).
Diese Wechselwirkungen sind nicht zu vernachlässigen: wenn ein Kind sich schon anders benimmt, als Eltern es erwarten oder wünschen, dann behandeln sie das Kind auch anders und verstärken dadurch vielleicht eine Neigung usw. Und natürlich gibt es diese Auswirkungen von Traumata auf Nachkommen. Ich habe mich mal intensiv mit der Problematik der "Kriegskinder" und "Kriegsenkel" beschäftigt; ich bin nämlich so ein "Kriegsenkel", d. h. meine Eltern waren Kinder oder Jugendliche während des 2. Weltkriegs.
So, liebe Kiki, bevor ich ein Buch schreibe, wünsche ich dir nun alles Gute, vor allem eine Verbesserung deiner Lebensqualität, viele liebe Grüße


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