Nachdem so viele hier fachlich wertvoll geschrieben haben (:begeistert:), habe ich mir mal den Artikel im Spiegel Special 4/2003 (S. 32 ff.) angesehen - als Laie.
Durchschnitt/StatistikMir fällt auf, dass Cohen seine Theorie stark auf Durchschnittswerte bezieht:
"in der Regel", "statistisch gesehen", "ich spreche nicht von Individuen, sondern vom Durchschnitt". Das heißt: Alles ist möglich, die Streubreite ist enorm - das äußert Cohen eben auch:
"Ausnahmen sind möglich".
Ich finde, man sollte dieses von Ambivalenz angesprochene "schwarz/weiß"-Denken (binäre Denkmodelle) ein für alle mal ablegen oder die Individualität viel stärker in den Vordergrund stellen. Dieses Denkverhalten vernichtet Vielfalt in unserer Welt und - was aus meiner Sicht noch wichtiger ist - die Akzeptanz der Vielfalt und der Abweichung von Normen.
Hormonelle EinflüsseFür mich ist sehr gut nachvollziehbar, dass hormonelle Einflüsse (Testosteronkonzentration) auch entscheidend für die Entwicklung des Gehirns und der Denkprozesse sind. Alles in unserem Körper geht zurück auf biochemische Vorgänge und hier spielen Hormone mE eine noch viel größere Rolle als derzeit bekannt/vermutet. Es ist logisch, dass sich Männer von Frauen unterscheiden - wieso soll es nicht auch "innere" Unterschiede (z.B. bei den Denkprozessen, beim Verhalten) geben?
Spiegel Special 4/2013, S. 34 hat geschrieben:SPIEGEL: Wie bitte? Eine Frau, die sich für Fußball interessiert, leidet an einer Hormonstörung?
Baron-Cohen: Absolut nicht. Bitte verstehen Sie mein Konzept vom S- und vom E-Gehirn nicht als Verkünden von Stereotypen. Wie gesagt, es geht immer nur um den Durchschnitt.
Beachtlich: Das Interviewteam (ein Mann, eine Frau - Gleichberechtigung) spricht von einer "Hormon
störung. Wie schnell sind wir dabei, Abweichungen als Störung zu bezeichnen. Mehr noch: wir denken nicht nur so, sondern wir haben keine Skrupel, das offen so zu formulieren. Ehrlich gesagt, hoffe ich nicht, dass irgendwann einmal Frauen, die sich für Fußball interessieren aufgrund dieser angeblichen Störung hormonell behandelt werden (bitte, versteht das geschlechterneutral auch umgekehrt mit entsprechenden Beispielen - ich habe nur die Frage des Interviewer-Teams wörtlich überspitzt dargestellt und weitergedacht).
Weitere Einflüsse (eigene Meinung)Die hormonelle Ausstattung ist nicht allein entscheidend (meine Hypothese in Anlehnung an Schattentanz:
Schattentanz hat geschrieben:Mir erscheint plausibel, dass die beste Anlage im Kopf nichts nützt, wenn man sie nicht gebraucht und trainert.
). Es ist ein Baustein, vielleicht sogar das Fundament, aber dann ist auch schon Schluss. Was auf diesem Fundament errichtet wird, steht jedem zunächst frei. Geschlechterunabhängig kann es ein Hochhaus, Kirche, schönes Reihenhaus oder Bruchbude werden. Dass die Entscheidung dann durch die Kultur, das familiäre Umfeld usw. vorgedacht wird, ist ein Problem der Gesellschaft; es hat aber nichts mehr mit Hormonen zu tun.
Ende der GleichmachereiSpiegel Special 4/2013, S. 35 hat geschrieben:Baron-Cohen: Wir sollten davon ausgehen, dass Menschen unterschiedliche Fähigkeiten haben, und das auch akzeptieren. Wenn sich ein Mensch mehr für technische Systeme interessiert, dann bedeutet das nicht, dass er minderwertig ist im Vergleich zu jemandem, der viele Sozialkontakte knüpft. Beide sind voller Interesse - auf verschiedenen Gebieten.
Spiegel Special 4/2013, S. 34 hat geschrieben:SPIEGEL: Aber Ihr Konzept scheint die meisten Geschlechter-Vorurteile zu bestätigen ...
Baron-Cohen: Ich versuche nur zu verstehen, warum ein Individuum sich typisch oder untypisch für seine Gruppe verhält. Wenn Sie daraus folgern, etwa für einen Pilotenjob weibliche Kandidaten gar nicht erst anzuschauen, dann entgehen Ihnen womöglich brillante Bewerberinnen. Die Natur arbeitet nicht nach Schema F ...
Für mich beinhalten diese beiden Zitate sehr viel, über das es Wert ist, länger nachzudenken. Dazu sollte die ganze Gesellschaft aufgerufen werden.
HoffnungSpiegel Special 4/2013, S. 34 hat geschrieben:Baron-Cohen: Gegenwärtig geht es uns nur darum, die Mechanismen zu verstehen, und nicht darum, sie zu manipulieren. Aber vielleicht müssen wir uns auf die Frage vorbereiten, ob man dieses Wissen dazu nutzen soll, Erkrankungen zu heilen.
Persönlich hoffe ich, dass es dabei bleibt, Verständnis und nicht die Kenntnis zur Manipulation zu bekommen. Heilung von Erkrankungen wäre sicherlich wünschenswert, ich bin aber mit meinem Wissen nicht in der Lage, die Abgrenzung zwischen "andersartigem" Verhalten und "Erkrankung" zu ziehen.
FortentwicklungDer Artikel ist 10 Jahre alt. Wie haben sich seine Theorien weiterentwickelt? Haben sie sich bestätigt oder nicht? Gibt es andere Forscher mit ähnlichen oder gegensätzlichen Überlegungen? Gibt es Bestätigungen oder neuer Erkenntnisse? Ich bin leider nicht so gut in Internet-Recherche. Vielleicht hat einer von euch hierzu etwas gefunden? Das würde mich interessieren... Ich werde bei Zeiten mal die Bücherläden durchstöbern
Psychologische Tests, Wirkung von Vor-InformationenEs ist viel über die Aussagekraft der Tests geschrieben worden. Schattentanz hat ironisch von "neues Spiel - neues Glück" gesprochen. Für mich sagen die konkreten Prozentsätze nichts aus, sie bilden nur eine Tendenz ab.
Zum "Ständigen Wachstum", was Ambivalenz und Schattentanz angesprochen haben: Hoffentlich beweist uns nicht irgendein Mathematiker mal, dass auch mehr als 100% möglich sind
.
Sehr interessant finde ich den von Ambivalenz angesprochenen Bericht über "Weibliches/Männliches Gehirn" mit dem Mathematiktest: Wie leicht können wir durch als wahr vorgestellte Erkenntnisse beeinflusst werden
.
Welchen Einfluss haben unsere innere Einstellung, unser Vorwissen, unsere Vermutungen in Verbindung mit den Fragestellungen in psychologischen Tests auf unsere Antworten und damit auf das Ergebnis? Ich denke, diesen Einfluss sollte man nicht zu gering einschätzen.
Mit nachdenklichen Grüßen
Nordstern.
(Änderung: abschließende Frage zu psychologischen Tests mit Einschätzung ergänzt)