Für die Forschung sicher hilfreich, aber persönlich, wie auch das ICD-11 eher Unbehagen bereitend. Beispiel:
Aber die Patienten bekommen meistens etwas mitgeteilt, was sie schon wissen.
Nope. Ich wusste, das was nicht stimmt, nicht aber was nicht stimmt. Wenn man mir nun eine mittlere oder schwere Persönlichkeitsstörung mit den Merkmalen der Distanziertheit, wie eine negativen Affektation attestiert hätte, wäre immer noch die Frage warum und was daraus zu folgen hat. Sprich soll ich dagegen angehen (weil ich das eigentlich nicht will, wie es ist), oder sollte ich mich um die Problempunkte einfach herum arrangieren (weil die Situation, an sich,, mir ev. doch behagt)? Gilt es eine Angst(-Störung) zu behandeln, die in Rückzug sich äußert, oder sind Stressoren vielmehr das Problem, gegen die Desensibilisierungsmaßnahmen nicht hülfen?
Der Professor beschrieb den Goldstandart heutiger Diagnosen, der in der Praxis aber nur in 15 Prozent aller Fälle zum Einsatz kommt. Wieso sollte das beim neuen von ihm geforderten System dann aber anders sein? Wenn es aber nicht anders ist, wäre ich nach dem von ihm befürworteten System noch mehr alleine gelassen, denn jetzt schon.
Das was mit mir nicht stimmte ahnte ich zwar tatsächlich, aber was? Das ich Sozialkontakte zurückfahen kann, mir das sogar gut tut, das war mir vorher nicht klar. Das mir das, bei einer zwischenzeitlich auch im Raum gestanden habenden ÄvPS, ev. eher geschadet hätte, der Distanziertheit ihren Raum zu lassen, dass bei einer auch im Raum gestanden habenden ASS, dass Problem wieder ganz woanders, nämlich dann in einer neurologischen Reizfilterschwäche nur zu finden wäre… wie hätte ich das wissen sollen, mit einer beispielsweise mittelschweren PS mit Ausprägungen in Distanziertheit und abgeflachten negativen Affekt?
Die absolut individuelle Diagnose wäre sicher besser als als eine oder mehrere Schubladen im Fach für Persönlichkeitsstörungen. Aber wenn der bisherige Goldstandart nur in 15 % aller Fälle heut Anwendung findet, wieviel weniger würde eine sicher aufwendigere individuelle Diagnose dann wohl Anwendung findet?
Mit der u. U. nicht Goldstandart-SPS-Diagnose konnte ich wenigsten noch etwas dazu passende Literatur lesen (daher auch meine Begeisterung, als ich mich hier angemeldet hatte). Mit einem nichtgoldstandart "Ihnen geht's wohl echt scheisse, aber Sie werden ja schon selbst wissen warum" (von mir befürchtetes Nichtgoldstandartdiagnosemodell der Zukunft) wäre ich, denke ich, weit schlechter gestellt gewesen, als mit der Schublade SPS.
Darum fürchte ich, den Abbau der Schubladen eher, weil die wenigstens etwas Anleitung, jenseits des 15%igen Goldstandarts noch boten. Hätte ich nach dem ICD-11 mich diagnostizieren lassen (oder dem schubladenfreieeren System, das der Professor im Artikel bewarb) und dabei jemanden ohne Goldstandartambitionen gehabt, ich wäre, fürchte ich, noch verlorener als jetzt. Respektive, wenn ich irgendwann doch noch mal eine Therapie versuchen sollte und das Gegenüber nur eine ICD-11 Diagnose vorab zu mir läse, müssten vorab, fürchte ich, weit mehr strukturierte Fragen gestellt werden, eine geeignete Therapie zu finden als jetzt schon. Und zur Erinnerung: Jetzt schon ist 85 der Therapeut*innen der Fragenkatalog bereits zu lang. — Darum bin ich eher wenig begeistert von dem allem.
[Edit: 2 Typos korrigiert und eine fehlerhafte Abkürzung ausgeschrieben.]