Anarchismus

Hier haben alle Themen über Religion, Politik oder das Zusammenleben mit unseren Mitmenschen platz.
Insuffizienz
alteingesessen
alteingesessen
Beiträge: 710
Registriert: 4. Juli 2014, 20:10
SPS: Vielleicht

Anarchismus

Beitragvon Insuffizienz » 12. September 2015, 01:13

Ich liebe die Freiheit. In dieser Gesellschaft stoße ich jedoch auf unnötige Hindernisse, die mir meine Freiheit verwehren. Mir missfallen wesentliche entscheidende Aspekte unserer Gesellschaftsform, die ich anprangere. Seit Kurzem habe ich wahrscheinlich einen Lösungsansatz für die meisten meiner empfundenen Unzulänglichkeiten gefunden: Eine Anarchie.
Es ist wieder derselbe Prozess in mir durchlaufen, den ich schonmal erlebt habe.

Zuvor war ich vom wahnsinnigem Irrglauben überzeugt, dass Kinder in die Schule müssen, um überhaupt "gebildet" - ich meine damit eher schlau, fähig zur Bildung der eigenen Meinung, individuelles Wissen besitzend usw. - sein zu können und ich war der festen Überzeugung, dass Kinder chaotische, unzivilisierte Wesen wären oder blieben, wenn sie nicht zur Schule gingen. Ich habe es einfach geglaubt, ohne Beweis, ohne überhaupt darüber nachzudenken.

Ich war vom wahnsinnigen Irrglauben überzeugt, dass eine Gesellschaft nur unter der Hegemonie eines staatlichen Gebildes vernünftig existieren kann. Ohne Beweis, ohne überhaupt darüber nachzudenken.
Doch hat da nicht eine Angst in mir gelebt, die unbegründet geschürt wurde? War es nicht nur ein Mem, das die Gesellschaft unbewusst weitergibt und dann nicht thematisiert werden kann von vielen - zu in der alternativen Hinsicht unreflektierten Menschen - Erzogenen, da sie daran, bspw. durch Dauerbestrahlung von irgendwelchen Medien, gehindert werden? Oder sind sogar Medien schuld, die eine Propaganda vermitteln, die es einem ohne Weiteres nicht möglich macht, die Welt zu hinterfragen, wenn immer ein gelenkter, einseitiger Blick auf die Geschehnisse vermittelt wird (auch unbewusst seitens der Verantwortlichen)?

Ich bin mir langsam bewusst geworden, dass der Staat eine Art imaginäres Konstrukt ist, das nur solange besteht wie wir Menschen es im Gros akzeptieren. Genauso verhält es sich mit der Form des Handels, damit mit der Art und der Existenz von Geld. Ohne Menschen oder ohne die mehrheitliche Einverständnis funktionieren diese Ideen nicht mehr.
Dem deutschen Volk wurde im Prinzip 1949 eine Verfassung (Grundgesetz) von den Besatzungsmächten vorgelegt, die bis heute besteht. Sie kann tatsächlich nach Belieben von den gewählten Bundesabgeordneten geändert werden, die ein freies Mandat innehaben, d. h. nach der Bundestagswahl vier Jahre unabhängig vom Volk regieren.
Die Gesetze, die es gibt, schränken die Menschen ungemein ein. Natürlich kann man darin auch einen Schutz sehen, aber 1. niemand hat mich gefragt, ob ich das jemals wollte (werde trotzdessen dazu gezwungen, wenn ich in einem Staat weiterhin leben möchte) und 2. wird sich der Vorteil im Vergleich zu einer Anarchieform erübrigen, wenn man weiter über ein solches anarchistisches Konzept nachdenkt/sich informiert.
Wenn ich mich nicht an die Vorschriften halte, die extrem in mein Leben eingreifen, dann wird mir irgendwann ein Polizist mit Gewalt drohen und ich werde verhaftet, obgleich ich womöglich niemanden gefährdet habe. Z. B. wenn man Marihuana besitzt, sein Kind nicht in eine Schule schicken möchte, den Rundfunkbeitrag nicht zahlen möchte oder what ever. Wieso muss ich mir einen extremen Eingriff in mein Leben gefallen lassen?
Es gibt praktisch nur die Möglichkeit eine Partei zu wählen. Eine Organisation, die ein Meinungpaket vorlegt. Zwischen diesen Meinungspaketen kann ich wählen, ich muss abwägen, was mir wichtig ist und welche Partei meine wichtigsten Veränderungswünsche ebenfalls umsetzen möchte. Ich muss beobachten, wie das so läuft, ob die Versprechungen gehalten werden (können). Die Partei muss meist noch große Kompromisse eingehen, da sie mit anderen Parteien in Landtagen oder im Bundestag kooperieren muss. So wird wohl nicht einmal im Ansatz umgesetzt, was ich mir wünsche: Ein selbstbestimmtes, freies Leben. Ich wiederhole, wurde ich denn gefragt, ob ich mit diesem Staatssystem einverstanden bin oder wird es jedem Bürger kompromisslos aufgezwungen, wenn er in Deutschland leben will? Wieso können Menschen nicht einfach ein autonomes Gebiet bilden oder in einer Region eine andere Gesellschaftsform? Warum legitimiert ein Staat Gewalt, wenn es ihm passt?
Zudem scheint mir das momentane System hervorragend geeignet, um die Gesellschaft zu spalten, wie viele andere Staatssysteme auch. Es gibt viele Ideologien, die beschreiben, wie ein Staat - die Hegemonie, die jeden einzelnen aufs Extremste in seiner Freiheit einschränkt - am besten funktioniert und handeln soll. So entstehen viele kleine Einzelkämpfer, isolierte Personen und Familien, die sich über Missstände beschweren und trotzdem an einem Staat festhalten, als wäre dieser ein heiliges Muss und alternativlos; stattdessen könnten sie auf die Menschen schauen, die sein eigenes Umfeld und seine Realität sind, um gemeinsam Konzepte zu besprechen die Freiheit der Individualität zu leben. Dafür braucht man niemanden, der einem sagt, was man zu meinen hat und dass dieser und jener Wunsch nicht umgesetzt werden kann (was man mit Leichtigkeit mit unserer Historie beweisen kann).
Ich wünsche mir einen Prozess, der bewirkt, dass die Gesellschaft langsam versteht, dass ihre Wünsche oder Probleme, die sie anderen Parteien mit der Wahl übergeben, damit sie sie umsetzen oder erfüllen, höchst unwahrscheinlich zur Lösung führen. Wir leben in einer Gewaltherrschaft, die auch oder überwiegend von reichen, damit mächtigen Menschen, meist einer Lobby, bestimmt wird, welche nicht die Sozietät sondern den Profit priorisieren(ich denke, Beweise dafür kann jeder selber finden bzw. beobachten).
Solange wir uns in dem System Staat bewegen, wird es wahrscheinlich keinen Frieden und keine Zufriedenheit auf der Welt geben; es gibt einfach immer Institutionen, die ihre Macht ausnutzen. Ich überspringe den Schritt, eine Anarchie vorzustellen und die Angst zu nehmen, dass Gewalt und Chaos entstehen würde (wobei das ja sowieso kein Argument ist, weil sie mit Staaten auch viel zu oft vorherrschen. Im Gegenteil, mit richtiger Umsetzung wird Missgunst, ein Konkurrenzgedanke und Armut höchstwahrscheinlich verschwinden können; es gäbe keinen guten Grund mehr reich sein zu wollen.)
Der Prozess zur Bildung einer Anarchie sollte friedlich verlaufen, weil sie ein durchweg friedliches Konzept ist. Er sollte von unten, vom Volk eingeführt werden, sukzessive. So kann der Machtapparat Staat immer mehr abgebaut werden. Besonders direkte (friedliche) Aktionen eignen sich dazu, natürlich Agitation jedweder anderer Art auch. Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass gewaltsame Stürze von rigorosen Regierungen zu neuen rigorosen Regierungen führten. Sowieso ist Gewalt prinzipiell das letzte Mittel der Wahl m. E.; wobei der am Ende stehende Link, der zu einem Aufsatz führt, Beispiele und Anführungen dazu nennt.
Um nochmal zur Frage zu gelangen, ob eine Anarchie möglich ist: Ein schönes, aber auch grausames Beispiel ist die temporäre Anarchie in Katalonien während des Spanischen Bürgerkriegs (1936-38). Das Zusammenleben beruhte währenddessen auf bedingungslose, gerechte Verteilung der Konsumgüter an alle Mitbürger, dafür arbeiteten alle, da die Bevölkerung natürlich wusste, dass sie für sich selbst verantwortlich war; und historisch hatte sie schon lange entsprechende Erfahrungen gemacht.
Die Industrie war anarchosyndikalistisch konzipiert, d. h. Selbstbestimmung und Solidarität stehen im Vordergrund in den Gewerkschaften. Als Organisationsstruktur bietet sich die Rätedemokratie an.
Es bildeten sich freie Schulen, sogar eine neue Reformpädagogik, die Escuela Moderna (moderne Schule) von Francisco Ferrer, die alle freiheitlichen Werte – insbesondere der anarchistisch geprägten, zu der Zeit autonomen Region Katalonien - revolutionär beinhaltete. Sie wurde weltweit bekannt und teilweise in anderen Ländern umgesetzt.
Dies soll bloß ein Beispiel von vielen sein (s. Mapuche oder Sans), um zu zeigen, dass Menschen zu einem vernünftigen Miteinander ohne Staatsgewalt fähig sind (welcher Form auch immer) und dass Anarchie keine Utopie oder kein unerreichbares ideales Modell einer Gesellschaft ist. Der Anarchismus bietet am wahrscheinlichsten den größten Raum für persönliche Freiheit und Individualität. Das größte Potenzial für Frieden und Menschlichkeit. Oder anders formuliert: Warum die Menschen zu ihrem Glück zwingen?

Nebenbei: Das Internet bietet eine Menge Formen von (weitestgehend) anarchistischen Prinzipien, z. B. Wikipedia, Linux, Foren wie dieses oder die Anonymous-Bewegung. Es scheint der Beginn von nationalen bis globalen anarchistischen Bewegungen zu sein.

Eine Einführung in die Idee des Anarchismus:
http://www.graswurzel.net/news/facharbeit.shtml

Eine Vortragsreihe zu dem Thema (nicht von einem Wissemschaftler):
https://www.youtube.com/watch?v=qfegYaaaJ8s&index=68&list=WL

Was sagt ihr zu meiner Meinung? Was könnt ihr kritisieren?
Zuletzt geändert von Insuffizienz am 17. Oktober 2015, 22:13, insgesamt 11-mal geändert.

Lemur
erfahren
erfahren
Beiträge: 347
Registriert: 14. August 2013, 09:22
SPS: Ja
Wohnort: Freiburg

Re: Anarchismus

Beitragvon Lemur » 12. September 2015, 07:33

In den 30er Jahren hatte sich im Rahmen des Spanischen Bürgerkriegs in Katalonien ein anarchistisches Gemeinwesen entwickelt. George Orwell hat, glaube ich, darüber geschrieben, als Augenzeuge. Und wenn ich mich recht erinnere, waren es nicht die Truppen Francos, die das Gemeinwesen dann zerschlugen, sondern die stalinistischen Kommunisten, die keine Konkurrenz haben wollten.

Auch die Strukturen, die sich jetzt in den syrischen Kurdengebieten (Rojava) herausgebildet haben, sind im Wesentlichen anarchistisch.

Insuffizienz
alteingesessen
alteingesessen
Beiträge: 710
Registriert: 4. Juli 2014, 20:10
SPS: Vielleicht

Re: Anarchismus

Beitragvon Insuffizienz » 12. September 2015, 19:12

12. Sep 2015, 07:33 » Lemur hat geschrieben:In den 30er Jahren hatte sich im Rahmen des Spanischen Bürgerkriegs in Katalonien ein anarchistisches Gemeinwesen entwickelt. George Orwell hat, glaube ich, darüber geschrieben, als Augenzeuge. Und wenn ich mich recht erinnere, waren es nicht die Truppen Francos, die das Gemeinwesen dann zerschlugen, sondern die stalinistischen Kommunisten, die keine Konkurrenz haben wollten.

Ich bin gerade dabei, den langen Wikipedia-Artikel Anarchismus in Spanien durchzuarbeiten. Naja, jedenfalls stimmt alles, was du schreibst, außer der letzte Punkt glaube ich. Ich denke, es waren die Truppen von Franco, aber da bin ich noch nicht. :D
Woher hast du deine Informationen?

Auch die Strukturen, die sich jetzt in den syrischen Kurdengebieten (Rojava) herausgebildet haben, sind im Wesentlichen anarchistisch.

Mh, interessant. Der nette Herr in diesem Video stellt die These auf, dass es bei Umbrüchen oftmals mindestens kleine Gebiete mit anarchistischen Strukturen gibt. Des Weiteren beweist er, dass der Anachismus tief in uns verankert ist, da bspw. die San, ein noch kleines Urvolk in Afrika, im Prinzip eine Art Vorfahre von uns darstellen kann, denn dieses hat lange keine Genveränderungen. Und es lebt(-e) tatsächlich anarchistisch. Es gab immer größere Gruppen (ich habe gehört, dass der Mensch sich von Natur aus in Gruppen von 8-15 Menschen ordnet) von ca. 12 Menschen, die völlig egalitär alle Fragen ausdiskutierten. Anarchismus bedeutet zwangsläufig extreme kulturelle "Bildung" oder extreme kulturelle Tätigkeit.

Inertia

Re: Anarchismus

Beitragvon Inertia » 13. September 2015, 00:23

Das klingt natürlich alles ganz toll, allerdings gehöre ich auch zu denen die glauben, dass eine Gesellschaft ohne Ordnung und Führung niemals funktionieren kann, zumindest nicht lange oder nur bis zu einer gewissen Größe. Ich halte diese Fantasien von Anarchie und übertriebenem Freiheitswahn schon immer für Irrsinn. Der böse Staat, die bösen, lügenden Politiker, die manipulativen Medien, die Lügenpresse. Ganz ehrlich, wie viel Freiheit wollt ihr denn noch? Was würdet ihr denn gerne noch machen, wovon hält man euch ab? Dass sich die Leute hierzulande über mangelnde Freiheit beklagen können, leuchtet mir irgendwie nicht so ganz ein. Ok, Marihuana ist ein klassisches Streitthema, da sag ich jetzt mal nichts dazu. Immerhin lässt sich das ja auch ohne größeren Aufwand lösen, wenn man denn will. ;)
Ich bin froh, dass wir in Deutschland so viele Gesetze haben, und wüsste jetzt auch keines, das mich irgendwie stören oder einschränken würde. Vielleicht gibt es welche, aber spontan fällt mir jetzt keines ein.

Natürlich passiert durch Politik und Staaten auch viel Schlimmes, aber das wäre in anarchistischen Strukturen nach einiger Zeit wohl auch nicht anders. Wer kontrolliert denn die gerechte Verteilung der Konsumgüter, wie haben die das in Katalonien gemacht? Und was haben die gemacht, wenn einer einfach nicht arbeiten wollte? Spätestens an solchen Punkten braucht es Gesetze. Rauswerfen? Wohin, wenn die ganze Welt eine einzige Anarchie wäre? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das lange gut ginge.

Was anarchistische Prinzipien im Internet betrifft, naja. Das klappt auch nur in einem gewissen Rahmen, ohne ein bisschen Kontrolle würde das auch nicht funktionieren. Wikipedia ist eine super Idee, die tatsächlich auch wie geplant aufgegangen ist. Allerdings wird das ja auch kontrolliert, überprüft, zensiert und von irgendwem geführt. Und das ist auch nötig, immerhin gibt es immer Leute, die nicht mitspielen und das ganze kaputt machen würden.

Wie absolute Anarchie im Internet aussehen kann, sieht man in den tieferen Ecken. Und was da dann so alles abläuft, wird sicherlich nicht mehr jeder als persönliche Freiheit akzeptieren. Da braucht man schon eine etwas andere Auffassung von Recht und Unrecht.

Deshalb halte ich sowohl Gesetze als auch die Zensur von Internet und Medien für eine prinzipiell gute Sache. Natürlich nur, das alles nicht für eigene Zwecke missbraucht wird. Aber mit diesem Risiko muss man wohl leben, einen Tod muss man sterben. Trotzdem finde ich es so immer noch besser. Absolute Freiheit wird es nie geben, genausowenig den Weltfrieden. Man kann nur versuchen, so nahe wie möglich ran zu kommen. Und in Deutschland haben wir es doch so gut wie kaum jemand anders, darüber bin ich heilfroh. Ich lebe lieber in einer fast freien, relativ sicheren Welt, als in einer absolut freien relativ unsicheren.

Aber vielleicht bin ich auch nur zu einfach gestrickt, ich glaube mein Freiheitsbedürfnis ist schon etwas unterdurchschnittlich. Zumindest konnte ich es noch nie verstehen, wenn sich jemand (hierzulande) über fehlende Freiheit beschwert hat. Vielleicht sehe ich es aber einfach nicht.

Insuffizienz
alteingesessen
alteingesessen
Beiträge: 710
Registriert: 4. Juli 2014, 20:10
SPS: Vielleicht

Re: Anarchismus

Beitragvon Insuffizienz » 13. September 2015, 11:28

Du hast leider nicht verstanden, was Anarchie bedeutet, sondern wurdest durch die einfache, mediale Unwissenheit indoktriniert.
Anomie (gr. a-nicht und nomie-Ordnung, Gesetz) bedeutet das Fehlen von einer Ordnung und Gesetzen.
Anarchie (gr. a-nicht und archia-Herrschaft) bedeutet das Fehlen einer Herrschaft.

Das klingt natürlich alles ganz toll, allerdings gehöre ich auch zu denen die glauben, dass eine Gesellschaft ohne Ordnung und Führung niemals funktionieren kann, zumindest nicht lange oder nur bis zu einer gewissen Größe. Ich halte diese Fantasien von Anarchie und übertriebenem Freiheitswahn schon immer für Irrsinn.

So "argumentiert" man gut. Ich argumentiere mal gleichwertig: Ich glaube, dass eine Anarchie sehr wohl langfristig bestehen kann.
Jetzt kommt meine Überlegenheit: Indigene Völker wie die Sans in Afrika oder die Mapuche in Chile und Argentinien(die übrigens nomadisch der Herrschaft der Inka und der Konquistadoren entkamen und bis heute versuchen, ihre freiheitliche Gesellschaft zu leben) haben seit jeher in Anarchie gelebt.
Damit liegt der Beweis vor, dass es funktioniert.

Natürlich passiert durch Politik und Staaten auch viel Schlimmes, aber das wäre in anarchistischen Strukturen nach einiger Zeit wohl auch nicht anders. Wer kontrolliert denn die gerechte Verteilung der Konsumgüter, wie haben die das in Katalonien gemacht? Und was haben die gemacht, wenn einer einfach nicht arbeiten wollte? Spätestens an solchen Punkten braucht es Gesetze. Rauswerfen?

In Anarchien gibt es Gesetze. Und dass in Anarchien viel Schlimmes passieren würde, das behauptest du mal wieder ohne jedweden Beweis oder irgendeine Ahnung.
In Katalonien haben die Menschen gemeinsam/miteinander in einer Gesellschaft gelebt. Es gab eben Räterepubliken, die in diesem Fall soweit ich weiß eher für die Arbeit gedacht waren, also Gewerkschaften, was der sog. Anarchosyndikalismus fokussiert. Räterepubliken haben den Vorteil, dass es keine freien Mandate gibt, die eigentlich und zwangsläufig viel mehr eine Aristokratie bedeuten wie bspw. in Deutschland, sondern ein imperatives Mandat. Man wählt als einen Vertreter, der meist nur kurzzeitig mit anderen politische Entscheidungen trifft (um Machtmissbrauch zu verhindern), nicht in mehreren Räten sitzen darf und wenn die Bevölkerung Machtmissbrauch sieht und unzufrieden ist, dann wird der Rat abgewählt. Das ist in meinen Augen Demokratie.
Man merkt zudem, dass Freiheit mehr Engagement für die Gesellschaft bedeutet. Die Anarchie in Katalonien hat in vielen Bereichen der Industrie deutlich prosperiert durch intelligentere Strukturen.
Die vormals klerikale Bildung (z. B. katechismus in der Grundschule auswändiglernen) hat einen Analphabetismus von über 50 % der Bevölkerung verursacht trotz Schulpflicht, oder logischerweise gerade wegen der Schulpflicht. Die anarchistischen Strömungen haben jedoch weltliche Schulen eingerichtet, besonders ist die dort konzipierte Reformpädagogik Moderne Schule von Fransisc Ferre zu nennen. Diese haben natürlich der Unbildung Abhilfe geschafft und versucht, ein mündiges Volk entstehen zu lassen.

Was anarchistische Prinzipien im Internet betrifft, naja. Das klappt auch nur in einem gewissen Rahmen, ohne ein bisschen Kontrolle würde das auch nicht funktionieren. Wikipedia ist eine super Idee, die tatsächlich auch wie geplant aufgegangen ist. Allerdings wird das ja auch kontrolliert, überprüft, zensiert und von irgendwem geführt. Und das ist auch nötig, immerhin gibt es immer Leute, die nicht mitspielen und das ganze kaputt machen würden.

Nochmal: Es zeugt von Unbildung Anarchie mit Anomie gleichzusetzen. Anarchie ist auch sehr struktuiert, doch lässt sie dem einzelnen mehr Freiheiten als in einem Staat. Ohne gewisse Disziplin und Struktur, das weiß jeder, wird man nichts erreichen. Ist einfach so.

Absolute Freiheit wird es nie geben, genausowenig den Weltfrieden. Man kann nur versuchen, so nahe wie möglich ran zu kommen. Und in Deutschland haben wir es doch so gut wie kaum jemand anders, darüber bin ich heilfroh. Ich lebe lieber in einer fast freien, relativ sicheren Welt, als in einer absolut freien relativ unsicheren.

Fast freie, relativ sichere Welt? XD
Wir sind die größten Ausbeuter und höchstens wir, die reichen westlichen Gesellschaften, können relativ sicher leben. Wir Bürger hier, die sich blind an dieser Schandtat beteiligen, sind aktive Beteiliger am Genozid von Millionen Menschen sowie am Leid von Milliarden. Warum passiert nichts? Wir nehmen so vielen alles weg, dass sie sich nicht einmal mehr ernähren können und sogar Kinder schuften müssen. Deine Einstellung widert mich an. Unmenschlich, sich in dieser Wohlstandsblase zu suhlen und nicht nach links und rechts zu schauen. Solange es Herrscher gibt, wird es, so zeigt es die Vergangenheit, immer Manipulation, Hegemonie und damit Leid geben. Mit einer Rätedemokratie (die m. E. als eine der wenigen Formen Demokratie im Namen zurecht trägt) könnte sich bei richtiger Umsetzung und Mentalität das Blatt wenden. Der Versuche wäre es für meinen Geschmack sogar zwangsläufig wert in Anbetracht des Leids der Welt.

Aber vielleicht bin ich auch nur zu einfach gestrickt, ich glaube mein Freiheitsbedürfnis ist schon etwas unterdurchschnittlich. Zumindest konnte ich es noch nie verstehen, wenn sich jemand (hierzulande) über fehlende Freiheit beschwert hat. Vielleicht sehe ich es aber einfach nicht.

Ich denke, beide Punkte treffen mit Sicherheit zu. Oder zumindest bis jetzt. Vielleicht würde da eine etwas bessere Informiertheit Abhilfe schaffen. ;D
Bist du eigentlich eher abhängig persönlichkeitsstrukturiert? Lässt du andere lieber für dich entscheiden? Und scheust du dich tendenziell, deine Meinung zu behaupten?

Inertia

Re: Anarchismus

Beitragvon Inertia » 13. September 2015, 19:25

13. Sep 2015, 11:28 » Insuffizienz hat geschrieben: Bist du eigentlich eher abhängig persönlichkeitsstrukturiert? Lässt du andere lieber für dich entscheiden? Und scheust du dich tendenziell, deine Meinung zu behaupten?


Das ist schwer zu beantworten, ich würde aber eher nein sagen. Ich wüsste jetzt nicht, wen ich für mich entscheiden ließe, und normalerweise sage ich auch was ich denke. Ich habe aber wie gesagt das Gefühl, dass ich mehr als genug (Meinungs)Freiheit habe, ich fühle mich in keinster Weise eingeschränkt.

Nochmal zum Thema, mag sein dass es in kleinen, unabhängigen Völkchen funktioniert, gibt oder gab ja genügend Beispiele dafür. Aber dass sowas global oder auch nur in Deutschland annähernd gut gehen könnte, glaube ich nicht. Da kann ich mich noch so viel bilden und informieren. Je mehr Menschen es gibt, desto mehr Spielverderber gibt es auch, desto mehr Führungssturkturen und Gesetze werden benötigt, und früher oder später wäre alles wieder so wie jetzt.
Vorher würden vielleicht kommunismus-ähnliche Strukturen entstehen, das ist ja im Prinzip der selbe Grundgedanke (an dieser Stelle wirst du mir jetzt sonstwas vorwerfen, ich weiß). Alles für das Volk, jeder trägt seinen Teil bei, alles ist gerecht(?) verteilt, strukturiert und organisiert. Nur dass sich die Leute dann auch wieder beschweren, weil sie ja ein Teil von diesem System sein müssen, man sie nicht gefragt hat, sie nicht frei sind.

Das ist natürlich meine ganz persönliche Einschätzung, einen Beweis habe ich wie du schon gesagt hast natürlich nicht. Aber ob deine Idee funktionieren würde, wüsste man natürlich auch erst dann, wenn man es versuchen würde.

Die Menschen beschweren sich doch immer über die, die die Gesetze machen und durchsetzen. Und sie beschweren sich auch immer darüber, dass sie nicht frei genug sind, dass sie zu wenig besitzen, dass ja alles so ungerecht ist und bla bla bla. Luxusprobleme eben, die Leute können auf jedem Niveau jammern. Weil sie nicht wissen, wann sie aufhören sollen, weil sie keine Grenzen kennen und nie verstehen werden, dass man nicht alles haben kann.
Da hilft dann auch kein guter Wille der Gemeinschaft, ein Ausreißer reicht um alles kaputt zu machen, das Böse ist bekanntlich immer stärker als das Gute. Um die Dummheit der Menschen halbwegs in den Griff zu bekommen, braucht es eine gewisse Härte. Und wenn daraus dann Ungerechtigkeiten entstehen, sind das für mich eben Kollateralschäden.

Insuffizienz
alteingesessen
alteingesessen
Beiträge: 710
Registriert: 4. Juli 2014, 20:10
SPS: Vielleicht

Re: Anarchismus

Beitragvon Insuffizienz » 13. September 2015, 20:57

Ich habe aber wie gesagt das Gefühl, dass ich mehr als genug (Meinungs)Freiheit habe, ich fühle mich in keinster Weise eingeschränkt.

Besserwisseralarm: Kein ist nicht zu steigern.
Dein Gefühl ist mir unbegreiflich.

Nochmal zum Thema, mag sein dass es in kleinen, unabhängigen Völkchen funktioniert, gibt oder gab ja genügend Beispiele dafür. Aber dass sowas global oder auch nur in Deutschland annähernd gut gehen könnte, glaube ich nicht.

Ich denke, dass die kleinen Völkchen alles andere als klein waren. Wieder behauptest du irgendetwas, ohne dich zu informierren. Ich vermute, dass die Völkchen natürlich früher, vor der Kolonialisierung usw. groß waren, aber vielleicht kann man das auch gar nicht so einfach historisch herausfinden.

Da kann ich mich noch so viel bilden und informieren. Je mehr Menschen es gibt, desto mehr Spielverderber gibt es auch

An sich ein völlig unlogisches Argument. Je mehr Mensch es gibt, desto mehr Spielverderber gibt es auch. Aber auch mehr Menschen, die mitmachen. Also irgendwie sinnlos. Außer, du willst damit sagen, dass es relativ mehr Spielverderber gäbe...ist auch egal.
desto mehr Führungssturkturen und Gesetze werden benötigt, und früher oder später wäre alles wieder so wie jetzt.

Wieder behauptest du etwas ohne Beweis oder Ahnung. Warum muss es "Führungsstrukturen" geben? Völlig eingeschränkt gedacht.

Vorher würden vielleicht kommunismus-ähnliche Strukturen entstehen, das ist ja im Prinzip der selbe Grundgedanke (an dieser Stelle wirst du mir jetzt sonstwas vorwerfen, ich weiß). Alles für das Volk, jeder trägt seinen Teil bei, alles ist gerecht(?) verteilt, strukturiert und organisiert.

Es gibt sogar den Begriff kommunistischer Anarchismus. Und ja, alles wird (menschen)gerecht (ungleich leistungsgerecht, was eine Betrachtung des Menschen als Ressource oder Maschine bedeutet) verteilt. Grundbedürfnisse bspw. bedingungslos an jeden.

Nur dass sich die Leute dann auch wieder beschweren, weil sie ja ein Teil von diesem System sein müssen, man sie nicht gefragt hat, sie nicht frei sind.

Das ist ja komplett unrealistisch. :D Ganz sicher nicht. Sie beschweren sich höchstens, dass sie mehr Besitz wollen und nicht mit einer Kollektivierung einverstanden sind wie es bei der katalonischen Anarchie teilweise war.

Aber ob deine Idee funktionieren würde, wüsste man natürlich auch erst dann, wenn man es versuchen würde.

Das ist einer der wichtigsten Punkte. Genauso verhält es sich mit dem Freilernen. Kann man nicht einmal etwas wagen, um potenziell eine bessere Welt zu erreichen? Theorie kommt sowieso nie annähernd an die Praxis heran, schon gar nicht bei solchen komplexen Themen. Aber du lebst ja sowieso völlig frei, warum sollte dich das kümmern.
Wie war eigentlich deine Schulzeit? Findest du Schule menschlich. Die Schulanwesenheitspflicht?

Da hilft dann auch kein guter Wille der Gemeinschaft, ein Ausreißer reicht um alles kaputt zu machen, das Böse ist bekanntlich immer stärker als das Gute.

Schonmal etwas von der selbsterfüllenden Prophezeiung gehört? Bekanntlich ist das Bose sicher nicht immer stärker.
Und ein Ausreißer reicht wohl kaum, sonst würden

Um die Dummheit der Menschen halbwegs in den Griff zu bekommen, braucht es eine gewisse Härte. Und wenn daraus dann Ungerechtigkeiten entstehen, sind das für mich eben Kollateralschäden.

Ich denke, es ist andersherum viel menschlicher. Gerade mit dem Sanftmut könnte es gelingen, die Dummheit zu besiegen. Da sehe ich vor allen Dingen die Schule (oder eben nicht die Schule) in die Pflicht genommen. Meine Ideen darüber, die ebenfalls viele informierte Menschen wie Gerald Hüther (Neurobiologe) oder Bertrand Stern, habe ich wahrscheinlich schon geäußert. Aber wahrscheinlich brächte es nichts, wenn du dich glücklicherweise vom Charakter her, der sehr willenlos sein muss, der Schule anpassen konntest und dir andere, andersartige Menschen, egal wären.

Ich entschuldige mich bereits im Voraus, dass ich so extrem polemisch, gar beleidigend gegen dich vorgehe. Ich hoffe, die siehst es nicht so ernst. Es gibt kaum Wichtigeres in meinem Leben als diese Themen.
Achja, mir ist noch etwas aufgefallen. Du bemühst dich, jedes Argument mit allen Mitteln hinfällig zu machen. Ich selber mache es genauso, aber vielleicht sollte man nicht immer sich von seinen (oft indoktrinierten) Ängsten überwältigen lassen und Dinge ausprobieren. Ich gebe aber zu, dass ich berechtigte Bedenken nicht angesprochen habe:
Wie kann eine einst "totalitäroide" nicht-demokratische Gesellschaft plötzlich eine demokratische Gemeinschaft werden, die Grundwerte wie Solidarität, Menschlichkeit und Freiheit innehaben soll?
Wie kann die Gesellschaft plötzlich in Kommunen funktionieren, in denen sie diskutieren muss, über Themen irgendwie abstimmen muss, Konsens schaffen muss und trotzdem die notwendigen Werte der Anarchie beibehält und nicht wieder in eine totalitäre Orthodoxie verfällt, die, wie man beobachtet, jedem Staat zueigen ist.
Für mich kann es nur durch eine Revolution von unten entstehen, es muss ein Prozess sein. Die Menschen müssen aufhören, das imaginäre Konstrukt, die imaginäre Institution Staat als festen und einzigen Glauben zu internalisieren. Es muss wahrscheinlich ein Prozess sein, angetrieben von radikalen Veränderungen und Umbrüchen. Das genialste wäre das m. E. die Annullation der Schulpflicht, die 1938 während der NS-Zeit eingeführt wurde und fast nur in Deutschland existiert, in Europa ist es nur Deutschland (Unterrichts- und Schulpflicht sind hier zu unterscheiden).
Ich denke ohne Hoffnungen kann man sich auch gleich umbringen.

Inertia

Re: Anarchismus

Beitragvon Inertia » 13. September 2015, 21:26

Wie gesagt, ich habe nur meine persönlichen Meinungen und Einschätzungen zu diesem Thema dargelegt. Niemand muss die teilen, daher gibt es auch keinen Grund meine Beiträge dermaßen Satz für Satz zu zerpflücken. Ich versuche keineswegs, jedes deiner Argumente hinfällig zu machen. Sind ja alles nur subjektive Meinungen und Gedanken, wie bei mir eben auch. Du hast eben eine andere Meinung darüber. Vielleicht ist die ein bisschen zu hoffnungsvoll, dafür ist meine vielleicht zu negativ und pessimistisch. Aber so bin ich nun mal.

Also, lass uns das bitte nicht in so eine Internetforen-typische Klugscheißerdiskussion ausarten. Ist ja traurig genug, dass wir beide momentan offensichtlich nichts Besseres zu tun haben. :)

Mir fällt auf, dass dir das mit der Schulpflicht extrem wichtig ist, das hast du nun bereits mehrmals erwähnt. Woher kommt das? Ich habe in meiner Schulzeit zwar auch sehr schlechte Erfahrungen gemacht, allerdings kamen die nicht von der Schule selbst, sondern von den sozialen Anforderungen und Zwängen, die damit einhergehen. Die Schulpflicht an sich halte ich schon für eine gute Idee. Natürlich ginge es auch ohne, schließlich kann sich theoretisch jeder selbst um die Bildung seiner Kinder kümmern. Allerdings gibt es auch viele Eltern, die das nicht auf die Reihe kriegen würden. Nicht auszudenken, wie viele komplett ungebildete asoziale dann rumlaufen würden. Noch mehr als jetzt schon. Da ist das deutsche Schulsystem denke ich schon eine gute "Vorsichtsmaßnahme", wenn sich auch mit Sicherheit einiges daran verbessern ließe.

Insuffizienz
alteingesessen
alteingesessen
Beiträge: 710
Registriert: 4. Juli 2014, 20:10
SPS: Vielleicht

Re: Anarchismus

Beitragvon Insuffizienz » 13. September 2015, 23:59

Vielleicht ist die ein bisschen zu hoffnungsvoll, dafür ist meine vielleicht zu negativ und pessimistisch. Aber so bin ich nun mal.

Puh, ich habe eigentlich gar nichts geschrieben, dass man mich hoffnungsvoll einschätzen könnte.

Ist ja traurig genug, dass wir beide momentan offensichtlich nichts Besseres zu tun haben. :)

Ich hoffe, das ist ironisch gemeint. Ich könnte mir kaum etwas Wichtigeres für einen Menschen vorstellen als sein Umfeld zu hinterfragen und dann zu reflektieren.

Mir fällt auf, dass dir das mit der Schulpflicht extrem wichtig ist, das hast du nun bereits mehrmals erwähnt. Woher kommt das?

Mir fällt auf, dass fast niemandem das mit der Schulpflicht wichtig ist, das hat kaum jemand jemals erwähnt. Woher kommt das?
Ich habe in meiner Schulzeit zwar auch sehr schlechte Erfahrungen gemacht, allerdings kamen die nicht von der Schule selbst, sondern von den sozialen Anforderungen und Zwängen, die damit einhergehen.

Wtf? Das ist ein Widerspruch an sich.
Ich begreife nicht, wie du das Problem einer insbesondere traditionellen, staatlichen) Schule nicht begreifst. Wieso kannst du nicht Systeme hinterfragen?

Die Schulpflicht an sich halte ich schon für eine gute Idee. Natürlich ginge es auch ohne, schließlich kann sich theoretisch jeder selbst um die Bildung seiner Kinder kümmern. Allerdings gibt es auch viele Eltern, die das nicht auf die Reihe kriegen würden. Nicht auszudenken, wie viele komplett ungebildete asoziale dann rumlaufen würden. Noch mehr als jetzt schon. Da ist das deutsche Schulsystem denke ich schon eine gute "Vorsichtsmaßnahme", wenn sich auch mit Sicherheit einiges daran verbessern ließe.

Ich kriege schon einen Herzkasper, wenn jemand sich sogar für die Schulpflicht ausspricht. Da fangen meine Hände schon an zu zittern. Ein Menschen, der so willenlos ist und ein so unfassbar geringes Freiheitsbedürfnis und eingeschränktes, unhinterfragtes Bild von seinem Umfeld hat, ist mir rätselhaft.

Niemand sagt, dass es empfehlenswert wäre, einfach Kinder zuhause zu lassen. Man könnte Kommunen einrichten bspw., wo es "Lehrer" gäbe, die eher Organisatoren und Begleiter insbesondere für Kinder wären. Essentiell wäre dann, dass die Welt gezeigt wird und auch Erwachsene dabei sind, welche die Kinder, wenn sie sich für das entsprechende Thema interessieren, bei Gelegenheit mitnehmen zu ihrem Arbeitsplatz. So hätte man nicht das Problem, dass Menschen die Freiheit und freie Entfaltung als Wert haben, reich sein müssten, um dem Kind ein menschenwürdiges Leben zu bieten; denn sie müssten zuhause auf es aufpassen. Dafür gäbe es eben diese Einrichtungen.
Und ja, man kann immer Angst haben, dass alle Kinder Sektenanhänger werden und Sekten die Welt übernehmen würde und alle Alkoholiker werden, wenn sie zuhause bleiben usw. Mit gewisser Unterstützung kann man das Freilernen sich gut praktizieren. Darüber hinaus wären Schulen ja nicht mit Abschaffung der Schulpflicht verboten, vielmehr würden sich bessere Schulen entwickeln. Die Kinder könnten ja selbst entscheiden, wo sie hinwollen. Und dann werden sie wohl kaum zu einer langweiligen autoritären Schule gehen, sondern dahin, wo lernen Spaß macht und wo man das lernen kann, was einen interessiert.
Daneben gibt es in fast jedem anderen Land die Unterrichtspflicht, d. h. Eltern, die ihre Kinder nicht dem System Schule hilflos und zwanghaft aussetzen wollen, können es eben zuhause behalten; die Kinder müssen jedoch jedes Jahr Prüfungen ablegen, damit sie auf demselben Bildungsstand bleiben. Schaffen sie die Prüfungen nicht, müssen sie das entsprechende Schuljahr in einer staatlichen Schule wiederholen.
Das ganze Problem ist einfach an der Sache, dass für Kinder so gut wie gar keine Menschenrechte gelten und sie absolut wie Menschen zweiter Klasse in dieser Gesellschaft behandelt werden. Jetzt braucht man nicht argumentieren: Kinder können wohl kaum alles verantworten, was sie machen. Mit Rechten kommen auch Pflicht etc. Jeder halbwegs intelligente Mensch wird schon die Kernaussage verstehen oder sollte mal anfangen, wie schon mehrmals erwähnt, sein Umfeld zu hinterfragen.
Das grobe Konzept ist zudem nicht meine Idee, bspw. der Neurobiologe Gerald Hüther schlägt sowas vor. Ich höre hier erstmal auf. Ich sage voraus, dass du das wieder für völlig unmöglich hältst, weil alle zu dumm sind und die Welt sowieso stationär ist, wo Veränderung nie passieren, weil die Geschichte ja gezeigt hat...oh ne, ist ja doch unrealistisch (Ich habe es überspitzt, du brauchst es nicht kommentieren. ;) ).

Imagohominis
engagiert
engagiert
Beiträge: 178
Registriert: 20. November 2014, 20:48

Re: Anarchismus

Beitragvon Imagohominis » 14. September 2015, 13:10

Für mich kann es nur durch eine Revolution von unten entstehen, es muss ein Prozess sein. Die Menschen müssen aufhören, das imaginäre Konstrukt, die imaginäre Institution Staat als festen und einzigen Glauben zu internalisieren. Es muss wahrscheinlich ein Prozess sein, angetrieben von radikalen Veränderungen und Umbrüchen. Das genialste wäre das m. E. die Annullation der Schulpflicht, die 1938 während der NS-Zeit eingeführt wurde und fast nur in Deutschland existiert, in Europa ist es nur Deutschland (Unterrichts- und Schulpflicht sind hier zu unterscheiden).
Ich denke ohne Hoffnungen kann man sich auch gleich umbringen.


Der Staat ist wesentlich mehr als ein imaginäres Konstrukt. Jedoch befürworte ich die Revolution von unten! Es besteht in der Allgemeinheit der anderen, in Verhältnis zu mir selbst, unmittelbare gesellschaftliche Realität, in der die Idee von einer Imagination von Staat am Scheitern des Praktischen verpufft. Die Realität eines Staates existiert solange, bis ein konstruktiver Gegensatz existiert. Die Sozialisation ist hierfür das entscheidene Momentum, indem das Verhältnis der Menschen untereinander umgedacht werden muss. Hierin wird uns schon in der Adoleszenz das Verhältnis zu anderen Menschen über die staatlichen Institutionen vermittelt: Mitmenschen werden gemäß institutionalisierten Kategorien als Mitglieder des Staates bekannt: "Mitschüler", "Lehrer", "Freunde", "Vater", "Mutter", usw.- alles historische, aber auch unverkennbar dem Staat zugehörige Ideen. Es ist diese abstrakte Idee, die wir frühzeitig durch die unmittelbaren sozialen Umfelder unserer Jugend internalisieren. Ich stimme zu: Wird der Mensch bedeutungslos, ist der Staat dies ebenso; solange ersterer jedoch von Bedeutung hat, wird auch der Staat von Bedeutung bleiben.
Es ist fern aller Praxis einer pluralistisch organisierten Gesellschaft, die Kollektivität, die überhaupt nichtbesteht, einem Zwang auszusetzen; unsere Gesellschaft bietet ein zu großes Maß an Integation durch Differenzierung, als dass in ihr ein Imperativ wie "die Menschen müssen aufhören, dieses oder jenes zu tun" greifen könnte. Gerade unser Menschenbild fordert den Individualisten, der sich selbst als Regent erscheint, wenn auch nur in der Illusion davon. In einer Gesellschaft des totalitären Prinzips des Individualismus ist die Kollektivität nur als abstrakte Größe, eben als der Staat in Form einer allgemeine Infrastruktur der beliebigen Interessen, denkbar und nutzbar. Innerhalb dieser Infrastruktur sollte die Realität des Staates mit guten Ideen zusammengeführt werden. Nicht totale Änderungen, sondern eher fließende Transformationen sind realistisch und Teil der menschlichen Erfahrung.
Ein absoluter Gegensatz zu unserem Staat - Beispiel BRD - ist wirklich denkbar schwierig, denn gerade das 20. Jahrhundert war von Experimenten mit Staatsformen durchzogen - mit der Quintessenz: viele Tote durch "revolutionäre Ideen". Viele Ideen für neue Staatsformen tragen noch immer die Spuren dieser Vergangenheit und entziehen sich somit einer Popularität. "Wir" haben uns zu sehr an die BRD gewöhnt.

Die eigentliche Änderung unserer Gesellschaft läuft heutzutage viral ab, über Ideen, die sich über die etablierten Strukturen in die Köpfe der Menschen bahnen; das ist der Trick der Marketingpsychologie, die Menschen in der Konsumgesellschaft zu motivieren; Ich spiele ungern den advocatus diaboli, aber nichts entspricht den pluralistischen Interessen unserer Gesellschaft eher als liberalistische Konzepte des Konsums: auch Ideen werden konsumiert. Das Internet ist die Plattform dieses Liberalismus geworden, der nötige Freiraum, der wohl das neue "Opium für das Volk" ist. Jedoch wird somit das Etablissement an sich nie liquidiert, bestehende Machtstrukturen zerbersten so nie, sondern die Degradierung von Ideen als systemimmanente, nie revolutionäre Ausmaße erreichende Meme wird seblbst zum Käfig für uns alle. Je mehr der Mensch sich in diesem vom System getragenen Individualismus einbettet, so ist dieser Mensch eher Konstrukt als Monade.. Es geht dem Menschen, den Individuen, einfach individuell zu gut: Wohlstand in materieller Hinsicht tilgt alle Nöten bis auf die Langeweile; es gibt keine die Schichten unserer Gesellschaft durchziehende Notstände, die uns unsere Individualität vergessen ließe, sondern die großen Probleme unserer Gesellschaft relativieren sich immer am Maß des Individuums. So werden wir die globalen Probleme, die sich so unserer Wahrnehmung entziehen, nie lösen lassen; wir leben in kleinen Maßstäben und das große und ganze verbleibt für uns in einer hohlen Abstraktion. Adorno hat schon früh in seiner "Minima moralia" von der Liquidierung des Individuums durch die Gesellschaft gesprochen: damit hat er gerade diese Einbettung des Einzelnen als eine Abkehr vom aufklärerischen Individuums gemeint.


Der andere Weg, den auch unsere Gesellschaft zulässt, ist der Anarchismus im kleinen, in der Manifestation der gegenseitigen Solidarität, vorallem im Vereinswesen, gerade in politischen, die ihre Satzung auf Solidarität setzen (hatte das Glück, jahrelang in einem dabei zu sein). Das Problem der politischen Gesellschaft ist, sofern sie überhaupt etwas bewirken möchten, ihre Möglichkeit, von anderen Menschen rezipiert zu werden. Ansonsten bleibt man ein Denkerclub, der im intellektuellen aufbüht, im praktischen aber nichts umsetzt..

John Rawls "Theory of Justice" liefert eine moderne, meiner Meinung nach dem Ideal eines aufgeklärten Anarchismus sehr nahekommende politische Philosophie, die das Prinzip der Gleichheit der Bürger zueinander als Basis einer Gesellschaftsform zu Grunde legt. Es ist mir sehr wichtig, dass man Anarchie nicht nur negativ, als Abkehr von den Aversionen, begründert, sondern dem ganzen eine konstruktive Grundlage bietet. Nur so entzieht man sich dem Regiment seiner negativen Gefühle und bildet eine Grundlage, die allgemein diskutiert werden kann. John Rawls ist hierfür sehr lesenswert.

PS:
Eine Schulreform wünsche ich mir auch, aber nicht nur dies: auch die universitären Verhältnisse entarten zu einem reinen Konzept des recruitment as human ressources! Jedoch habe ich mich z.B. in der Schule nie als gezwungen empfunden, sondern als privilegiert! Jedoch ist noch einiges verbesserungswürdig; ein gutes Vorbild sind die vielfach zitierten skandinavischen Bildungsinstitutionen, die gerade im pädagogischen Bereich als Musterbesipiel erwähnt werden. In Frankfurt habe ich auch letztens eine sog. "freie Schule" besichtigt, die mir gut gefallen hat; so wird konstruktiv versucht, die defizitären Strukturen von innen auf einem guten Weg zu reformieren.
Im Grund gibt es keinen Bodhi-Baum
Da ist kein klarer Spiegel auf einem Gestell
Im Ursprung ist da kein Ding
Worauf soll sich Staub legen


Zurück zu „Gesellschaft und Kultur“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 27 Gäste